Doktor Faustus
als er bereits die Absicht hegte, Leipzig zu verlassen und nach Süddeutschland zu gehen. Und daran schloß sich sogar die längste Periode unserer Trennung: es waren die Jahre, die er, nach einem kurzen Aufenthalt in München, mit seinem Freunde, dem Schlesier Schildknapp, in Italien verbrachte, während ich am Bonifatius-Gymnasium zu Kaisersaschern zuerst meine Probe-Kandidatur absolvierte und dann in fester Anstellung mein Lehramt ausübte. Erst 1913, als Adrian seinen Wohnsitz im oberbayerischen Pfeiffering genommen hatte und ich nach Freising übersiedelte, gelangte ich wieder in seine Nähe, um dann freilich sein längst schon verhängnishaft tingiertes Leben, sein zunehmend erregtes Schaffen siebzehn Jahre lang, bis zur Katastrophe von 1930, ohne – oder so gut wie ohne – Unterbrechung unter meinen Augen sich abspielen zu sehen.
Längst war er kein Anfänger mehr im Studium der Musik, ihres seltsam kabbalistischen, zugleich spielerischen und strengen, ingeniösen und tiefsinnigen Handwerks, als er sich zu Leipzig wieder der Leitung, Anweisung, Aufsicht Wendell Kretzschmars unterstellte. Seine raschen, von einer alles im Fluge auffassenden Intelligenz befeuerten, höchstens von vor {219} greifender Ungeduld gestörten Fortschritte auf dem Felde des Überlieferbaren, in der Satztechnik, der Formenlehre, der Orchestrierung, bewiesen, daß die zweijährige theologische Episode in Halle sein Verhältnis zur Musik nicht gelockert, keine wirkliche Unterbrechung seiner Beschäftigung mit ihr bedeutet hatte. Von seinen eifrigen und gehäuften kontrapunktischen Übungen hat sein Brief einiges gemeldet. Kretzschmar legte fast noch größeres Gewicht auf die Instrumentationstechnik und ließ ihn, wie schon in Kaisersaschern, viel Klaviermusik, Sonatensätze, selbst Streichquartette orchestrieren, um dann das Geleistete in langen Besprechungen mit ihm zu erörtern, zu bemängeln, zu korrigieren. Er ging so weit, ihn mit der Orchestrierung des Klavierauszuges einzelner Akte von Opern zu beauftragen, die Adrian nicht kannte, und der Vergleich dessen, was der Schüler versucht, der Berlioz, Debussy und die deutsche, österreichische Spät-Romantik gehört und gelesen hatte, mit dem, was Grétry oder Cherubini selbst getan hatten, gab Meister und Lehrling zu lachen. Kretzschmar arbeitete damals an seinem eigenen Bühnenwerk, dem »Marmorbild«, und auch davon gab er dem Adepten eine oder die andere Szene im Particell zur Instrumentierung und zeigte ihm dann, wie er selbst es gehalten, oder wie er es vorhabe, – Anlaß zu reichlichen Debatten, bei denen, versteht sich, in der Regel die überlegene Erfahrung des Meisters das Feld behauptete, einmal aber wenigstens doch die Intuition des Neulings den Sieg davontrug. Denn eine Klangkombination, die Kretzschmar auf den ersten Blick als unklug und mißlich verworfen, leuchtete ihm schließlich als charakteristischer ein, als was er selbst im Sinn gehabt, und bei der nächsten Zusammenkunft erklärte er, Adrians Idee übernehmen zu wollen.
Dieser war weniger stolz darauf, als man denken sollte. Lehrer und Schüler waren nach ihren musikalischen Instinkten und Willensmeinungen im Grunde recht weit auseinander, wie {220} ja in der Kunst fast notwendig der Strebende sich auf die handwerkliche Führung durch ein generationsmäßig schon halb entfremdetes Meistertum angewiesen sieht. Es ist dann nur gut, wenn dieses die heimlichen Tendenzen der Jugend doch errät und versteht, sie allenfalls ironisiert, aber sich hütet, ihrer Entwicklung im Wege zu sein. So lebte Kretzschmar der selbstverständlichen, stillschweigenden Überzeugung, daß die Musik ihre endgültig höchste Erscheinungs- und Wirkungsform im Orchestersatz gefunden habe, – was Adrian nicht mehr glaubte. Für seine zwanzig Jahre war, anders als noch für den Älteren, die Gebundenheit der aufs höchste entwickelten Instrumentaltechnik an die harmonische Musik-Konzeption mehr als eine historische Einsicht, – es war bei ihm etwas wie eine Gesinnung daraus geworden, in der Vergangenheit und Zukunft verschmolzen; und sein kühler Blick auf den hypertrophischen Klangapparat des nach-romantischen Riesenorchesters; das Bedürfnis nach seiner Kondensierung und seiner Zurückführung auf die dienende Rolle, die er zur Zeit der vorharmonischen, der polyphonen Vokalmusik gespielt; die Neigung zu dieser und also zum Oratorium, einer Gattung, in der der Schöpfer der »Offenbarung S. Johannis« und der »Weheklag Dr.
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