Doktor Pascal - 20
schlank, in ihren schwarzen Kittel gekleidet; und ihre köstliche blonde Jugendlichkeit, ihre gerade Stirn, ihre feine Nase, ihr festes Kinn, das alles nahm bei ihrem Aufbegehren einen kriegerischen Zauber an.
»Du, die du mein Werk bist, meine Schülerin, meine Freundin, mein zweites Denken, du, der ich ein wenig von meinem Herzen und meinem Hirn gegeben habe! Ach ja, ich hätte dich ganz und gar für mich behalten müssen und nicht zulassen dürfen, daß dein blödsinniger Gott mir das Beste von dir wegnahm!«
»Ach, Herr Doktor, Sie lästern Gott!« schrie Martine, die näher getreten war, um einen Teil seines Zorns auf sich abzulenken.
Aber er sah sie nicht einmal. Für ihn war nur Clotilde da. Und er war wie verwandelt, von einer solchen Leidenschaft aufgewühlt, daß unter seinem weißen Haar inmitten seines weißen Bartes sein schönes Gesicht vor Jugend flammte, vor ungeheurer zärtlicher Liebe, die verletzt und aufs höchste empört war. Einen Augenblick noch sahen sie einander so an, Auge in Auge, ohne daß einer nachgab.
»Du! Du!« wiederholte er mit seiner zitternden Stimme.
»Ja, ich! Warum, Meister, sollte ich dich denn nicht so lieben, wie du mich liebst? Und warum sollte ich nicht versuchen, dich zu retten, wenn ich dich in Gefahr glaube? Du machst dir Sorgen darüber, was ich denke, du willst mich am liebsten zwingen, so zu denken wie du!«
Niemals hatte sie ihm so die Stirn geboten.
»Aber du bist ein kleines Mädchen, du weißt nichts!«
»Nein, ich bin eine Seele, und davon weißt du nicht mehr als ich!«
Er ließ ihren Arm los, er hob mit einer weit ausholenden Gebärde die Hand gen Himmel, und ein ungewöhnliches Schweigen sank herab, erfüllt von ernsten Dingen, von der nutzlosen Auseinandersetzung, auf die er sich nicht einlassen wollte. Er war ans Mittelfenster getreten und hatte mit einem kräftigen Ruck den Fensterladen aufgestoßen, denn die Sonne sank bereits, das Zimmer füllte sich mit Schatten. Dann kam er zurück.
Aber in einem Bedürfnis nach Luft und freier Weite war sie an dieses offene Fenster getreten. Der feurige Glutregen hatte aufgehört, nur der letzte Schauer des überhitzten und erblassenden Himmels sank noch von oben herab; und von der immer noch brennendheißen Erde stiegen mit dem erleichterten Atem des Abends warme Gerüche auf. Unmittelbar am Fuß der Terrasse verlief die Eisenbahnstrecke mit den ersten Anlagen des Bahnhofs, dessen Gebäude man sehen konnte; dahinter verriet eine Baumreihe, die die weite ausgedörrte Ebene durchschnitt, den Flußlauf der Viorne, und jenseits der Viorne stiegen die Hänge von SainteMarthe auf, mit Ölbäumen bestandene, terrassenförmig ansteigende Hänge rötlichen Ackerlandes, die von mörtellos gefügten Steinmauern gehalten und von düsteren Pinienhainen gekrönt wurden: ein weites, trostloses, von Sonne zerfressenes Amphitheater im Farbton alter gebrannter Ziegel, das oben am Himmel jenen Saum aus tiefdunklem Grün entrollte. Links taten sich die Schluchten der Seille auf, Haufen gelber Steine, die inmitten der blutfarbenen Äcker zusammengestürzt waren und von einer ungeheuren Felswand wie von der Mauer einer riesigen Festung überragt wurden, während zur Rechten am eigentlichen Taleingang, wo die Viorne floß, die Stadt Plassans ihre verblichenen rosa Ziegeldächer übereinanderstufte, das dichte Gewirr einer alten Stadt, aus der die Wipfel uralter Ulmen hervorstachen und über die der hohe Turm von SaintSaturnin herrschte, der zu dieser Stunde einsam und erhaben im lichten Gold des Sonnenuntergangs aufragte.
»Ach, mein Gott«, sagte Clotilde langsam, »wie hochmütig muß man sein, um zu glauben, daß man alles mit Händen fassen und alles erkennen kann!«
Pascal war auf den Stuhl gestiegen, um sich zu vergewissern, daß keines der Aktenstücke fehlte. Dann hob er das Stück Marmor auf und legte es auf das Brett zurück; und als er den Schrank mit energischer Hand wieder verschlossen hatte, steckte er den Schlüssel tief in seine Tasche.
»Ja«, entgegnete er, »man muß alles zu erkennen trachten und darf vor allem nicht den Kopf verlieren bei Dingen, die man nicht erkennt und zweifellos niemals erkennen wird!«
Martine war wiederum zu Clotilde herangetreten, um ihr Beistand zu leisten, um zu zeigen, daß beide gemeinsame Sache machten. Und nun bemerkte der Doktor auch sie, und er spürte, daß die beiden der gleiche Eroberungswille vereinte. Nach Jahren heimlicher Versuche war das schließlich der offene
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