Doktor Pascal - 20
sprechen wollte, wandte besorgt den Kopf und schaute kurz auf die Tür zum Nebenzimmer. Dann sagte sie halblaut:
»Du weißt, wo der Schlüssel zu dem Schrank ist?«
Clotilde antwortete nicht, machte lediglich eine Gebärde, um ihren ganzen Widerwillen, auf diese Art ihren Meister zu verraten, zum Ausdruck zu bringen.
»Du bist doch wirklich ein Kindskopf! Ich schwöre dir, daß ich nichts nehme, ich werde nicht einmal etwas von seinem Platz rücken … Bloß, da wir allein sind und Pascal doch nicht vor dem Abendessen auftaucht, könnten wir uns vergewissern, was da drin ist, nicht wahr? Oh, nur einen kurzen Blick hineinwerfen, mein Ehrenwort!«
Reglos stand das junge Mädchen da und willigte immer noch nicht ein.
»Und außerdem, vielleicht irre ich mich, möglicherweise ist da gar nichts von den schlimmen Sachen drin, von denen ich dir erzählt habe.«
Das gab den Ausschlag, Clotilde holte rasch den Schlüssel aus dem Schubfach und öffnete selber den Schrank ganz weit.
»Da, Großmutter, die Aktenstücke sind da oben!«
Ohne ein Wort hatte sich Martine vor der Tür zum Nebenzimmer aufgepflanzt, lauschte, horchte auf den Stößel, während Félicité, vor Erregung wie am Boden festgenagelt, die Akten betrachtete. Da waren sie nun endlich, diese furchtbaren Akten, dieser Alpdruck, der ihr Leben vergiftete! Sie sah sie, sie würde sie gleich berühren, wegnehmen! Und sie reckte sich hoch, vor Eifer schienen ihre kurzen Beine länger zu werden.
»Es ist zu hoch, mein Kätzchen«, sagte sie. »Hilf mir, gib sie mir!«
»Oh, das nicht, Großmutter! Nimm einen Stuhl!«
Félicité nahm einen Stuhl und stieg geschwind hinauf. Aber sie war immer noch zu klein. Mit einer ungewöhnlichen Anstrengung stellte sie sich auf die Zehen, und es gelang ihr, sich so groß zu machen, daß sie mit der Spitze ihrer Fingernägel die blauen Aktendeckel berührte; und ihre Finger strichen darauf herum, griffen wie mit kratzenden Krallen danach. Auf einmal gab es ein Gepolter: sie hatte eine Gesteinsprobe, ein Marmorstück, das auf einem der unteren Bretter lag, heruntergerissen.
Sofort hielt der Stößel inne, und Martine sagte mit erstickter Stimme:
»Vorsicht, er kommt!«
Aber Félicité, die ganz verzweifelt war, hörte nicht, ließ nicht los, als Pascal rasch ins Zimmer trat. Er hatte geglaubt, ein Unglück sei geschehen, es sei jemand gestürzt, und er war entgeistert angesichts dessen, was er da sah: seine Mutter auf dem Stuhl, den Arm noch hoch erhoben, während Martine beiseite getreten war und Clotilde sehr blaß dastand und abwartete, ohne die Augen abzuwenden. Als er begriffen hatte, wurde er selber kreideweiß. Ein furchtbarer Zorn stieg in ihm hoch.
Die alte Frau Rougon verlor keineswegs die Fassung. Sobald sie sah, daß die Gelegenheit verpaßt war, sprang sie vom Stuhl und erwähnte die garstige Beschäftigung, bei der er sie überrascht hatte, mit keinem Wort.
»Sieh an, da bist du ja! Ich wollte dich nicht stören … Ich war nur gekommen, um Clotilde guten Tag zu sagen. Aber nun schwatze ich schon seit fast zwei Stunden, und jetzt mache ich mich rasch davon. Ich werde zu Hause erwartet, man wird sich schon wundern, wo ich geblieben bin … Auf Wiedersehen am Sonntag!«
Ganz unbekümmert ging sie davon, nachdem sie ihrem Sohn zugelächelt hatte, der sich ihr gegenüber aus Ehrerbietung stumm verhielt. Diese Haltung nahm er schon seit langer Zeit ein, um eine Auseinandersetzung zu vermeiden, die, wie er fühlte, grausam werden müßte und vor der er sich stets fürchtete. Er kannte sie, er wollte ihr alles verzeihen mit der großen Duldsamkeit des Wissenschaftlers, der die Vererbung, die Umwelt und die Umstände in Betracht zog. War sie nicht schließlich seine Mutter? Das allein hätte schon genügt; denn während seine Nachforschungen seiner Familie entsetzliche Schläge versetzten, bewahrte er im Herzen eine große zärtliche Liebe für die Seinen.
Als seine Mutter nicht mehr da war, brach sein Zorn los und fuhr auf Clotilde nieder. Er hatte die Augen von Martine abgewandt, er hielt sie starr auf das junge Mädchen gerichtet, das den Blick immer noch nicht senkte und so die Verantwortung für seine Tat tapfer auf sich nahm.
»Du! Du!« sagte er endlich.
Er hatte sie am Arm gepackt, er drückte ihn so, daß sie aufschrie. Aber mit dem unbezähmbaren Willen ihrer Persönlichkeit, ihres Denkens sah sie ihm trotzdem weiter ins Gesicht, ohne sich vor ihm zu beugen. Sie war schön und erregend, so zart, so
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