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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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gleichen Zeit entwickelt wie die Schönheit. Clotilde war zwar manchmal noch starrköpfig und jungenhaft, aber im Grunde war sie eine fügsame, eine zärtliche Frau, die gern geliebt sein wollte. Die Wahrheit war, daß sie in völliger Freiheit herangewachsen war, niemals etwas anderes gelernt hatte als Lesen und Schreiben und sich erst dadurch, daß sie ihrem Onkel half, eine ziemlich umfangreiche Bildung angeeignet hatte. Aber das war nach keinem Plan vor sich gegangen, Clotilde hatte sich lediglich für Naturgeschichte begeistert, wodurch sich ihr alles über Mann und Frau offenbarte. Doch sie hütete ihre jungfräuliche Züchtigkeit wie eine Frucht, die noch von keiner Hand berührt ward, zweifellos dank ihrer unbewußten, frommen Erwartung der Liebe, und dieses tiefe Empfinden des Weibes ließ sie das Geschenk ihres ganzen Seins, ihr Aufgehen in dem Mann, den sie lieben würde, bewahren.
    Sie steckte ihr Haar hoch und wusch sich gründlich; ihrer Ungeduld nachgebend, öffnete sie dann leise die Tür ihres Zimmers und wagte es, auf Zehenspitzen geräuschlos durch das geräumige Arbeitszimmer zu gehen. Die Fensterläden waren noch geschlossen, aber sie sah deutlich genug, um nicht gegen die Möbel zu stoßen. Als sie am anderen Ende vor der Tür zum Zimmer des Doktors angelangt war, beugte sie sich vor und hielt den Atem an. War er bereits aufgestanden? Was mochte er wohl tun? Sie hörte deutlich, wie er mit kleinen Schritten auf und ab ging, zweifellos war er beim Anziehen. Niemals betrat sie dieses Zimmer, in dem er bestimmte Arbeiten zu verbergen liebte und das abgeschlossen blieb wie ein Tabernakel. Bangigkeit hatte sie erfaßt, die Bangigkeit, hier von ihm angetroffen zu werden, falls er die Tür aufstieß; und eine große Verwirrung war in ihr, ein Aufbegehren ihres Stolzes und zugleich ein Verlangen, ihre Unterwerfung zu zeigen. Einen Augenblick wurde ihr Bedürfnis, sich auszusöhnen, so stark, daß sie drauf und dran war anzuklopfen. Als sich dann das Geräusch von Schritten näherte, rannte sie wie irre davon.
    Bis acht Uhr lebte Clotilde in immer größer werdender Ungeduld. Jede Minute sah sie nach der Stutzuhr auf dem Kamin ihres Zimmers, eine Empire Stutzuhr aus vergoldeter Bronze, eine Schmucksäule mit Amor, der lächelnd die schlummernde Zeit betrachtet. Gewöhnlich ging Clotilde um acht Uhr nach unten, um gemeinsam mit dem Doktor im Eßzimmer das Frühstück einzunehmen. Inzwischen machte sie überaus sorgfältig Toilette, kämmte sich die Haare, zog sich die Schuhe an, streifte ein Kleid aus weißem, rotgepunktetem Leinen über. Und weil sie noch eine Viertelstunde totzuschlagen hatte, folgte sie einem alten Verlangen; sie setzte sich, um an einer kleinen Spitze zu nähen, einer Imitation von ChantillySpitze an ihrem Arbeitskittel, dem schwarzen Kittel, der ihr allmählich zu jungenhaft und nicht weiblich genug vorkam. Aber da es acht Uhr schlug, ließ sie von ihrer Arbeit ab und ging rasch hinunter.
    »Sie werden allein frühstücken müssen«, sagte Martine seelenruhig im Eßzimmer.
    »Wieso das?«
    »Ja, der Herr Doktor hat mich gerufen, und ich mußte ihm sein Ei durch die Tür, die nur einen Spalt breit geöffnet war, hineinreichen. Der kommt wieder mal nicht los von seinem Mörser und seinen Filtriergeräten. Den kriegen wir vor Mittag nicht zu Gesicht.«
    Clotilde stand betroffen da, ihre Wangen waren blaß. Sie trank ihre Milch im Stehen, nahm ihr Brötchen mit und folgte dem Dienstmädchen in die Küche. Im Erdgeschoß befand sich außer dem Eßzimmer und dieser Küche nur noch ein Salon, der nicht benutzt wurde und in dem man die Kartoffelvorräte aufbewahrte. Früher, als der Doktor noch Patienten bei sich zu Hause empfing, hielt er in diesem Raum seine Sprechstunden ab; aber schon vor Jahren hatte man den Schreibtisch und den Sessel in sein Zimmer hochgeschafft. Und dann war da nur noch ein anderer kleiner Raum, in den man von der Küche aus gelangte, das Zimmer des alten Dienstmädchens, ein sehr sauberes Zimmer, in dem eine Nußbaumkommode und ein klösterliches Gurtbett mit weißen Vorhängen standen.
    »Du glaubst, daß er wieder angefangen hat, seine Flüssigkeit herzustellen?« fragte Clotilde.
    »Freilich! Was soll es sonst sein. Sie wissen ja, daß er Essen und Trinken vergißt, wenn ihn das packt.«
    Da machte sich der ganze Ärger des jungen Mädchens in einer tiefen Klage Luft.
    »Ach, mein Gott! Mein Gott!«
    Und während Martine nach oben ging, um Clotildes Zimmer zu

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