Dolce Vita, süßer Tod: Kriminalroman (Inspektor Stucky) (German Edition)
als einmal miteinander reden sehen. Wissen Sie, die Verkäuferinnen machen die Schaufenster von außen oder die Gehsteige vor den Geschäften sauber, und dabei tauschen sie ein paar Worte miteinander aus …«
»Ja, natürlich. Haben Sie hier auch irgendetwas von Rimbaud?« Das war ihm gerade eingefallen.
»Etwas auf Französisch und Die Werke im Original mit nebenstehender Übersetzung.«
»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass es hier jemanden gibt, der Rimbaud im Original liest?«
»Mal der eine oder andere Schüler …«, antwortete der verunsicherte Bibliothekar, während er das Ausleihregister studierte.
»Sie, der Sie ein Fachmann sind – wie schätzen Sie Rimbaud ein?«
»Als Kaugummi für Pubertierende.«
»Vielleicht nehme ich ihn mit«, sagte der Inspektor.
Stucky musste nachdenken; er brauchte eine Pause. Er nahm sich einen Wagen vom Polizeipräsidium und fuhr los, in eine seiner Lieblingsecken der Stadt, wo es direkt am Sile-Ufer eine Trattoria gab. Die Straße endete dort; sie mündete in den offenen Platz vor dem Lokal, das auch noch Tischchen im Freien stehen hatte. Es war ein kalter, aber heller Tag; die Sonne war, wenn man regungslos stehen blieb, fast schon lästig, und es war ein Vergnügen, zuzusehen, wie das Wasser blitzschnell dahinrauschte und die Wasservögel sich ohne klares Ziel von der Strömung treiben ließen. Vorn machte der Fluss eine Biegung, aber Stucky wusste, wie er von dort aus weiterfloss zwischen den Dämmen; es folgten weitere Schleifen, alte Schleppkähne, die an den Ufern versenkt waren, die Lehmgruben und in der Ferne schließlich die Ziegeleien. Ein interessantes Land mit Vergangenheit. Sein Vater hatte in Treviso gewohnt, Jahrzehnte zuvor, und hatte gerade noch die letzten Momente eines besonderen sozialen Gefüges erlebt: die Lastkähne, den Hafen von Fiera, den Verkehr auf dem Fluss, die sonntäglichen Ausflüge auf dem Sile bis hinein in die Lagune, bis zu den Schleusen, die den Blick auf Venedig und sein Meer öffneten.
»Darf’s ein kleiner Prosecco sein, Signor Inspektor?«
»Aber nur so viel, dass ich nicht unhöflich erscheine …«
Er erinnerte sich an seinen Großvater, der mit Wein gehandelt hatte, den er auch über den Fluss transportierte, und an seine Erzählungen von den Reisen mit den Fährleuten an feuchten Novembertagen, wenn er am Bug des Schiffes saß und an den Ufern die Büchsen knallen hörte, die auf Enten und Rallen zielten.
Aristide, der Besitzer der Trattoria, brachte ihm das Glas Prosecco und dazu Oliven, Sardellen und hart gekochte halbierte Eier.
»Bleiben Sie zum Mittagessen?«
»Sie bringen mich in Versuchung …«
»Dann bleiben Sie doch!«
»Nur einen Salat …«
»Sie wissen nicht, was Ihnen entgeht!«
Vom Tisch aus konnte Stucky zu dem Mann hinüberschielen, der schon in den Siebzigern war, und er sah, wie er sich daranmachte, die Tische zu decken, unterstützt von seiner frisch angetrauten Frau, einer Brasilianerin. Einer von vielen, die schuften und schuften und dann, kurz vor dem Ende, noch schnell eine Ausländerin ehelichen.
Der Inspektor hob das Glas und kostete den prickelnden Wein. Dann zog er aus der Manteltasche das Büchlein mit den Rimbaudschen Werken hervor und blätterte es durch. Er bemerkte, dass es einen Index gab. Als würde er Klemas, des Halunken, Gedanken ticken hören, hielt er seinen Finger auf den Gedichten mit dem Titel Letzte Verse an, und dann lag für ihn keine Wahl näher als die Überschrift Das Goldene Zeitalter . Er hörte diese Gedanken, aber sie belustigten ihn. Gespannt schwenkte er das Glas in einer Hand, mit der anderen schlug er die Seite auf, die er suchte. Er ließ eine Zeile nach der anderen auf sich wirken: Vis et laisse au feu / l’obscure infortune . Da waren sie, diese Worte. Er las das ganze Gedicht. Nichts Besonderes. Der Mörder erlaubte sich ein Spielchen.
Zwei verschiedene Geschichten, sagte sich der Inspektor. Die der Attacken und die der Signorina Schepis. Möglicherweise hatte die erste den Anstoß zur zweiten gegeben. Durchaus möglich. Aber es war nicht dieselbe Hand, da war er sich sicher. Nur oberflächlich betrachtet gab es hier eine Kontinuität.
Er rief Landrulli an.
»Nimm die Zettelchen, die man auf dem Körper von Signorina Schepis gefunden hat, bring sie ins Labor und lass sie Stück für Stück überprüfen. Dann musst du mir für halb vier Signorina Ricci einbestellen. Sie ist vor drei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Eine
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