Dolce Vita, süßer Tod: Kriminalroman (Inspektor Stucky) (German Edition)
der Familie empfunden?«
»Die Familie! Sie fühlte sich dem Ersticken nahe, ihr fehlte die Freude.«
»Ihr fehlte die Freude …«
»Ich sah, wie sie litt. Ich musste sie loslassen.«
»Signora Pitzalis … haben Sie sie beauftragt, Ihre Tochter zu bewachen?«
»Ich habe ihren Tod nicht gewollt«, sagte er zum Inspektor im Ton eines Feldherrn, der seine Soldaten hatte fallen sehen, weit drunten im Tal.
»Wer würde schon den Tod der eigenen Kinder wollen?«
»Nicht in dieser Weise«, murmelte der Mann.
»Colonello, bringen wir etwas Licht in die …«
Um ein Haar hätte Stucky »Angelegenheit« gesagt, als ginge es um eine Sanktion wegen einer Fristüberschreitung oder wegen irgendeiner vergessenen Stempelmarke. Der Mann schien etwas zu verbergen, was ihn dazu brachte, diesen Tod leichtzunehmen, wie eine Nebensache. Es traf Stucky daher unerwartet, als der Colonello ihm beim Hinausgehen folgenden Befehl erteilte: »Ergreifen Sie ihn und liefern Sie ihn mir aus!«
»Sie wissen, dass das nicht möglich ist.«
Der Mann blickte ihn eindringlich an.
Stucky machte einen Abstecher zum Polizeipräsidium von Triest, aber nur, damit man ihm dort bestätigte, dass gegen Signorina Schepis nichts vorlag. Man einigte sich darauf, abzuwarten, bis man über präzisere Informationen verfügte.
Am späten Vormittag stand er bereits vor der schönen Bibliothek, in der Mario De Pol arbeitete. Stucky beobachtete, wie er sich zwischen den Regalen bewegte, wie er mit einem Stapel Bücher unter dem Arm auftauchte und wieder verschwand.
Fast auf Zehenspitzen begab sich der Inspektor in den Lesesaal, wo ein paar ältere Herrschaften damit beschäftigt waren, die Lokalpresse zu durchstöbern. Er musste zugeben, dass der Raum sehr einladend war; durch die breiten Fenster flutete viel Licht herein, und die Tische waren von solchen Ausmaßen, dass man am eigenen Platz genug Bewegungsspielraum hatte, um den gegenübersitzenden Leser nicht zu stören; auch die Wände waren ansprechend hergerichtet und mit Plakaten geschmückt, die impressionistisch gemalte Seerosenteiche zeigten. Stucky ließ sich auf einem Stuhl nieder, ohne dass die Alten den Blick von den Nachrichten des Tages hoben. Eindeutig gemütlich. Ein Paradies.
Aus den Augenwinkeln sah er De Pol, der sich auf seinen Platz zubewegte, und erhob sich schweren Herzens.
» Buongiorno , Ihren Ausweis, bitte«, sprach der Mann Stucky an, bevor dieser den Mund öffnen konnte.
»Ehrlich gesagt, habe ich keinen Ausweis für die Bibliothek.«
»Ach, ein neues Mitglied«, antwortete De Pol und zog ein Anmeldeformular hervor. »Geben Sie mir bitte Ihre persönlichen Daten an …«
Stucky nannte Vor- und Nachnamen.
»Hier wohnhaft?
»Seit drei Jahren, und trotzdem ist es mir noch nicht gelungen, die Lizenz zum Fliegenfischen zu erwerben …«
»Wie schade. Ihr Beruf?«
»Ich bin beim Staat.«
»Geht es noch etwas genauer?«
»Bei der Staatspolizei.«
Ohne die Fassung zu verlieren, füllte der Bibliothekar das Formular aus.
»Bitte unterschreiben Sie hier.«
»Sind Sie auf irgendein literarisches Genre spezialisiert?«
»Signor Stucky, dies hier ist eine öffentliche Bibliothek, es gibt einen geschäftsführenden Ausschuss; die Auswahl der Bücher ist niemals von den persönlichen Präferenzen Einzelner bestimmt.«
»Könnten Sie mir ein gutes Buch empfehlen?«
»Einen Roman oder ein Sachbuch?«
»Etwas, was meiner Freundin gefallen könnte, etwas, was dem weiblichen Geschmack entspricht.«
»O, die Damen lesen von allem etwas. Ich meine, die wirklichen Leseratten.«
»Meine Freundin beschäftigt sich mit Kleidung …«
»Eine Verkäuferin?«
»Genau …«
Einen Moment lag Spannung in der Luft.
»Natürlich wissen Sie darüber Bescheid, was derzeit diesen Ärmsten widerfährt …«
»Ja, ich beschäftige mich damit.«
»Denken Sie sich, was für ein Zufall! Ich kenne einige der Damen, die angefallen wurden.«
»Tatsächlich? Und Signorina Schepis, das Mordopfer?« Der Mann fuhr zusammen. »Ist das ein Verhör?«
»Aber ich bitte Sie! Ich leihe mir ein Buch aus. Wäre ich sonst hierhergekommen?«
»Jede Information kann Ihnen weiterhelfen, nicht wahr? Nein, das arme Mädchen kannte ich nicht. Auch wenn ich sagen muss, dass ich sie gesehen habe, flüchtig, durch das Schaufenster. Der Schuhladen, in dem ich regelmäßig einkaufe, liegt genau gegenüber von ihrem Geschäft. Ich weiß, dass die Verkäuferin in diesem Laden mit ihr verkehrt hat, ich habe sie mehr
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