Dolch und Münze (02): Königsblut (German Edition)
zu politischen Wortführern und Fürstreitern des Zweckdienlichen geworden. Die Stimme der Göttin, der zu widerstehen auf Dauer unmöglich war, hatte hier williges Gehör gefunden, und die Adligen strömten herbei wie Kinder zu einem Puppenspiel, erregt vom Hauch der Exotik, der Dekadenz und des Bizarren.
Sie waren tot. Ihre Stadt, ihr Reich und die Wahrheiten, die sie mit der Milch ihrer Ammen aufgesogen hatten. Wie das erste blasse Anzeichen von Aussatz hatte die Fäulnis ihre Stadt berührt, und keiner von ihnen konnte es als das erkennen, was es war. Und aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie es auch niemals verstehen, nicht einmal, wenn der Wahnsinn sie für sich beanspruchte. Sie würden sterben, ohne je erkannt zu haben, was aus ihnen geworden war.
»He! Alter!«
Der Abtrünnige drehte sich um. Der Wächter war ein Jasuru, mit Bronzeschuppen und schwarzer Zunge. Er trug verstärktes Leder mit dem Siegel einer Schlange auf orangefarbenem Grund. Hinter ihm stieg eine junge Frau mit der Hilfe eines Dieners in den gleichen Farben aus einer vergoldeten Kutsche. Die Frau selbst trug einen schwarzen Ledermantel, der zu großzügig geschnitten war, ganz der Mode entsprechend.
»Was hast du hier zu schaffen?«, wollte der Jasuru wissen, seine Hand auf dem Schwertknauf.
»Nichts Dringendes«, antwortete der Abtrünnige. »Mir ist nicht aufgefallen, dass ich im Weg stehe. Tut mir sehr leid.«
Der Wächter grollte tief in der Kehle und wandte den Blick ab. Der Abtrünnige drehte sich um und ging davon. Hinter ihm schwoll der hohe, scheppernde Klang von zinnernen Gongs an. Seit er ein junger Mann und Priester in einem Bergtempel einen halben Kontinent entfernt gewesen war, hatte er den Ruf zum Gebet nicht mehr vernommen. Einen Moment lang konnte er den Staub und das süße Brunnenwasser riechen, konnte hören, wie Eidechsenleiber über Steine schabten, und den Ziegen-Eintopf schmecken, den niemand auf der Welt so zubereiten konnte, wie sie es in dem Dorf getan hatten, in dem er aufgewachsen war. Eine tiefe Stimme begann den Ruf zum Gebet, und die Macht im Blut des Abtrünnigen erschauerte beim Klang der halb vergessenen Silben. Er hielt inne, schlug die Weisheit tausender Kindergeschichten in den Wind und drehte sich um.
Ein Mann, groß wie ein Bulle, in das Grün und Gold eines Hohepriesters gekleidet, bereitete die niederen Riten vor, aber es war niemand, den der Abtrünnige wiedererkannte. Der Hohepriester aus seiner Zeit war also tot. Nun, die Spinnengöttin versprach vieles, aber körperliche Unsterblichkeit gehörte nicht dazu. Ihre Priester konnten sterben. Dieser Gedanke war ein Trost. Der Abtrünnige hüllte sich enger in seine billigen Wollgewänder und verschwand in dem nassen Labyrinth aus breiten Straßen und Gassen.
Der Spalt teilte Camnipol in der Mitte wie die Messerwunde Gottes. Sechs massive Brücken überspannten den Abgrund von Rand zu Rand, richteten sich hoch über der Leere auf, massive Netzwerke aus Stein und Eisen. Unzählige behelfsmäßige Konstruktionen aus Ketten und Seilen überbrückten ihn weiter unten, wo sich die Seitenwände näher kamen. Wenn man in der Nähe der Kante saß, lag die Geschichte der Stadt offen vor einem, Ruine lagerte sich auf Ruine, bis die uralte Architektur verschwand, weil sie nicht mehr vom Stein zu unterscheiden war, mit Ausnahme des ein oder anderen Bogens oder grün angelaufener Bronzeverzierungen. Seit dem Zeitalter der Drachen hatte es an dem Ort, an dem Camnipol stand, eine Stadt gegeben, die über und aus den Ruinen der vorherigen Stadt erwachsen war. Selbst jetzt lebten Arme aus den dreizehn Rassen tief im Fleisch der Stadt, wohnten in lichtlosen Höhlen, die Lagerhallen, Ballsäle und Paläste ihrer Vorfahren gewesen waren.
»Über Abflüsse denkt man eigentlich nie richtig nach«, sagte Smit, der hinaus in die graue Luft starrte.
»Wohl nicht«, erwiderte der Abtrünnige, während er seinen Mantel abstreifte. »Gibt es einen bestimmten Grund, weshalb ich es deiner Ansicht nach hätte tun sollen?«
Die Truppe war in einem öffentlichen Hof am Rande des Spalts untergekommen. Die dünnen Türen des Wagens standen offen, aber sie hatten die Bühne nicht heruntergelassen. Cary saß im Schneidersitz an das große Rad gelehnt und nähte Perlen auf das blaue Kleid. Sie würden heute Abend Die Narretei der Braut aufführen, und die Rolle der Lady Partia erforderte ein wenig mehr Firlefanz. Sandr und Horniss waren weiter hinten unter dem hohen
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