Dolly - 01 - Dolly sucht eine Freundin
Eltern weg, und das aufgeregte Erzählen hörte auf. In den Gemeinschaftsräumen besprachen die Mädchen die Tagesereignisse.
Nach einer Weile erinnerte Dolly sich an Susanne Hoppe. Sie sah sich um. Susanne war nicht da.
“Wo ist Susanne?” fragte Dolly. “Ich glaube, in einem der Übungsräume für Musik”, meinte Katrin. “Ich möchte wissen, warum sie ausgerechnet heute üben muß, wenn kein Mensch Unterricht hat.”
“Ich werde sie suchen”, sagte Dolly und ging hinaus. Die Übungsräume waren winzig. In jedem standen nur ein Klavier, ein Stuhl und ein Hocker. Aus zweien dieser Zimmer hörte man Musik. Dolly guckte in das erste: Irene saß dort und spielte leise für sich selbst. Sie bemerkte Dolly nicht einmal. Aus dem anderen Raum kamen nicht die verträumten Melodien, wie Irene sie spielte, sondern einfache Fingerübungen, die immer wiederholt wurden, in fast zorniger Weise.
Dolly öffnete die Tür – ja, Susanne saß hier! Dolly trat ein.
Susanne drehte sich um und blickte ihr unfreundlich entgegen. “Ich übe”, sagte sie. “Störe mich nicht!”
“Was hast du nur?” fragte Dolly ärgerlich. “Du brauchst mir nicht gleich an die Kehle zu springen. Den ganzen Tag habe im dich gesucht. Meine Mutter wollte dich sprechen.”
“Aber ich wollte nicht mit deiner Mutter sprechen”, antwortete Susanne und klopfte ihre Übung weiter, rauf und runter, rauf und runter.
“Und weshalb wolltest du nicht?” rief Dolly. “Sie hatte dir etwas von daheim zu bestellen.”
Keine Antwort. Rauf und runter, rauf und runter – Susannes Finger flogen über die Tasten, noch lauter als vorher.
Da verlor Dolly die Geduld. “Hör auf!” brüllte sie. “Was ist denn mit dir los?”
Susanne trat aufs Pedal und hämmerte weiter auf die Tasten. Offenbar wollte sie kein Wort hören.
Dolly trat dicht an sie heran und rief ihr in die Ohren: “Warum hast du erzählt, du hättest keine Schwester? Du hast eine! Deshalb konnte deine Mutter auch nicht zu Besuch kommen. Aber sie hat dir Grüße bestellt und läßt dir sagen…”
Susanne fuhr herum, ganz blaß im Gesicht. “Laß mich allein! Weil du den ganzen Tag lang mit deiner Mutter zusammen warst und ihr Getue um dich hattest, glaubst du, du könntest nun kommen und mich verspotten! Ich hasse dich!”
“Du bist verrückt!” schrie Dolly und schlug mit der Hand aufs Klavier, daß die Tasten klirrten. “Du hörst überhaupt nicht zu, was ich dir erzählen will. Aber du sollst zuhören! Deine Mutter hat meiner erzählt, daß du ihr so nichtssagende kurze Briefe schreibst. Sie sagte…”
“Ich mag’s nicht hören!” würgte Susanne hervor und stand auf. Sie stieß Dolly beiseite.
Aber wenn Dolly wütend war, vertrug sie es nicht, daß jemand sie anfaßte; darum gab sie den Stoß mit aller Kraft zurück.
Susanne flog quer durch den kleinen Raum, stürzte über den Stuhl und blieb einen Augenblick liegen. Sie griff nach dem Magen. “Es tut weh!” stieß sie hervor. “Du gemeines Biest!”
Dolly zitterte noch vor Wut, als Susanne aus dem Zimmer stolperte. Doch fast augenblicklich verrauschte ihr Zorn wieder, und sie war ganz überwältigt vom Schreck.
Wie konnte sie sich nur so fürchterlich gehenlassen! Susanne war merkwürdig, gewiß, aber sie – Dolly – hatte sie angegriffen. Sie war wieder jähzornig gewesen, obwohl sie sich vorhin erst vor ihren Eltern gerühmt hatte, es käme nie mehr vor!
Sie stürmte hinaus, um sich bei Susanne zu entschuldigen. Aber Susanne war nirgends zu sehen. Auch im Gemeinschaftsraum war sie nicht.
Dolly ließ sich in einen Sessel fallen und rieb sich die Stirn. Wie hatte sie sich bloß so aufführen können!
Später wartete Dolly im Gemeinschaftsraum auf Susanne. Doch Susanne kam nicht. Es läutete zum Abendessen, und die Mädchen gingen hinüber in den Speisesaal. Susanne war auch dort nicht zu sehen. Merkwürdig!
Fräulein Pott bemerkte den leeren Platz. “Wer fehlt noch!” fragte sie.
“Susanne Hoppe”, antwortete Dolly. “Ich sah sie zuletzt in einem der Übungsräume – vor einer Stunde etwa.”
“Wenn sie nicht kommt, wird ohne sie gegessen”, sagte Fräulein Pott. “Sie muß die Glocke gehört haben.”
Die Mädchen plauderten über den vergangenen Tag. Nur Dolly war still. Ob Susanne sich beleidigt und gekränkt in irgend einen Winkel verzogen hatte? Was konnte nur mit ihr los sein? Fühlte sie sich unglücklich? Und warum?
Marlies schniefte laut. “Wo hast du dein Taschentuch!” fragte Fräulein Pott. “Hast du
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