Dolly - 15 - Ein Möwenfest im Möwennest
tauschen, der sie – wie sie fürchtete – unerträglich lange von ihrem Schwarm fernhalten würde, da entdeckte sie den jungen Mann durch die offene Tür zur Küche. Er stand neben der Köchin an dem großen Tisch, an dem für gewöhnlich das Essen angerichtet wurde. Blitzschnell ergriff Verena den nächstbesten Tellerstapel und rannte fast, um ihn in die Spülküche zu bringen. Der Italiener nahm eine große Kanne Kaffee in Empfang, die Köchin stellte sie ihm in einen Tragekorb, dazu Tassen, Löffel, ein Schälchen mit Zucker und eine Kanne Milch.
„Aber nicht fallen lassen!“ mahnte sie. „Und daß du mir das Geschirr nachher wiederbringst!“
Verena vergewisserte sich, daß keiner zu ihr herübersah, und stahl sich auf den Flur hinaus, von dem man durch den Hinterausgang ins Freie kam. Hier mußte der Junge mit seinem Korb vorbeikommen.
Als er im Türrahmen erschien, tat sie, als hätte sie gerade in die Küche gehen wollen.
„Oh, hallo… Kaffee geholt?“
„Si.“
„Bekommt ihr hier auch Mittagessen?“
„Si. Um zwölf Uhr. Wir essen mit Köchin und Hausleute.“
„Ah ja, bevor wir essen!“ Verena stockte, ihr wollte absolut nicht einfallen, wie sie das Gespräch fortsetzen konnte. Schließlich fragte sie: „Wie heißt du?“
„Angelo. Und du?“
„Verena.“
„Du bist sehr hübsch. Und das ist ein schöner Name, Verena. Bellissima Verena! Schönste Mädchen von ganze Schule!“
Verena wurde rot.
„Quatsch, du übertreibst! Es gibt viel Hübschere in Möwenfels als mich.“
„Für mich… du bist die Schönste!“ beteuerte Angelo und legte die Hand aufs Herz.
Verenas Puls begann zu jagen wie unter einem plötzlichen Fieberanfall.
„Gehen wir spazieren heute abend?“ fragte Angelo. „Um vier Uhr bin ich fertig mit meiner Arbeit.“
„Das geht nicht. Dann ist Studierzeit. Außerdem darf ich nicht so einfach weggehen.“
„Wann? Morgen?“
„Ich weiß nicht… Ich muß jetzt gehen, ich glaube, es kommt jemand…“ stotterte Verena.
Da tat Angelo etwas Unerwartetes. Er setzte den Korb mit dem Kaffee auf den Boden, ergriff mit beiden Händen Verenas Kopf und drückte ihr einen heftigen Kuß auf die Lippen. Dann nahm er seinen Korb wieder auf und ging pfeifend nach draußen. Verena blieb fassungslos im Flur zurück, schwankend, ob sie wütend oder glücklich sein sollte. Aber da Angelo so sehr betont hatte, für ihn wäre sie das schönste Mädchen von ganz Möwenfels, beschloß sie, ganz einfach glücklich zu sein. Singend hüpfte sie die Treppen hinauf, singend und hüpfend betrat sie den Schlafsaal und warf sich auf ihr Bett, um die vergangene Szene in Gedanken wieder und wieder zu durchleben; seine Lippen auf ihrem Mund zu spüren, seine Hände zu fühlen, wie sie sich zart und fest zugleich um ihren Kopf gelegt hatten.
„He, was ist mit dir los?“ fragte Babette, eines der Mädchen aus dem Westturm, die in jeder freien Minute auf ihrem Bett lag und las.
„Ach nichts, ich wollte mich nur ein bißchen ausruhen. Ich hab’ Kopfschmerzen.“
„So siehst du aber gar nicht aus. Eher wie…“
„Wie denn?“
„Ach nichts.“
Außer Babette hielt sich zum Glück niemand im Schlafsaal auf. Verena kramte ihr Briefpapier aus dem Schubfach und begann, einen zärtlichen Liebesbrief zu schreiben. Irgendwie würde es ihr schon gelingen, ihn Angelo zuzustecken.
Die Rache der Enttäuschten
„Ich fürchte, da gibt’s bald ein paar gebrochene Herzen“, sagte
Klaus beim Frühstück zu Dolly.
„Wegen des hübschen Italieners? Ach, laß sie doch schwärmen. So
was braucht man in dem Alter.“
„Ah ja? Und für wen hast du geschwärmt?“
„Laß mich überlegen. Zuerst für einen Schauspieler, der bei uns am
Theater die Liebhaberrolle spielte. Dann für einen bekannten
Tennisspieler. Und für den jungen Gitarrespieler unseres Ferienhotels
in den Bergen; er war Student und verdiente sich in den
Semesterferien dort sein Geld. Ach ja, und für den Sohn unserer
Putzfrau, aber das war vor den anderen, er war Elektriker und machte
hin und wieder kleinere Reparaturen bei uns.“
„Nie für einen Lehrer?“
„Das habe ich mir für die Ehe aufgehoben“, sagte Dolly lächelnd.
„Aber sag mal im Ernst, machst du dir Sorgen wegen der Mädchen?“ „Ich weiß nicht recht, der Bazillus scheint mehrere befallen zu
haben. Wenn ich beobachte, wer da so alles im Unterricht
Liebesbriefe und Gedichte schreibt. Wie oft die Mädchen neuerdings
das dringende Bedürfnis verspüren, während des Unterrichts
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