Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
McAuliffe zog ein Notizbuch aus der Innentasche seines Wolljacketts, schlug etwas darin nach, dann steckte er es wieder ein.
    »Er hat versucht, herauszuklettern«, sagte er schließlich, so beiläufig, wie jemand vielleicht sagt: Ich habe eine Verabredung zum Mittagessen.
    Mir war, als würde mir eine Fleischgabel ins Kreuz gestochen, dahin, wo mich Joe damals mit dem Holzscheit geschlagen hatte, aber ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. »So?« sagte ich.
    »Ja.« sagte McAuliffe. »Die Innenwand des Brunnenschachts besteht aus großen Steinen, und auf mehreren von ihnen haben wir blutige Handabdrücke gefunden. Es sieht so aus, als wäre er auf die Beine gekommen und hätte sich dann langsam, Hand über Hand, nach oben gearbeitet. Es muß eine übermenschliche Anstrengung gewesen sein, und zwar unter Schmerzen, die qualvoller waren, als ich mir vorstellen kann.«
    »Es tut mir leid, daß er soviel ausstehen mußte«, sagte ich. Meine Stimme war so gelassen wie immer - zumindest glaube ich das -, aber ich konnte spüren, wie mir in den Achselhöhlen der Schweiß ausbrach, und ich erinnere mich, daß ich Angst hatte, er würde auch auf meiner Stirn ausbrechen oder in den kleinen Gruben an meinen Schläfen, wo er ihn sehen konnte. »Armer alter Joe.«
    »Ja«, sagte McAuliffe, und seine Leuchtfeuer-Augen blitzten und bohrten. »Armer… alter… Joe. Ich glaube, er hätte es vielleicht sogar geschafft, ganz herauszukommen. Wahrscheinlich wäre er bald darauf ohnehin gestorben, aber ja, ich glaube, er hätte es schaffen können. Aber irgendetwas hat das verhindert.« 
    »Was war das?« fragte ich.
    »Er erlitt einen Schädelbruch«, sagte McAuliffe. Seine Augen waren so hell wie immer, aber seine Stimme war so sanft geworden wie das Schnurren einer Katze. »Wir haben zwischen seinen Beinen einen großen Stein gefunden. Er war bedeckt mit dem Blut Ihres Mannes, Mrs. St. George. Und in diesem Blut fanden wir ein paar kleine Porzellanscherben. Wissen Sie, was ich daraus schließe?«
    Eins… zwei… drei.
    »Das hört sich an, als hätte dieser Stein nicht nur seinen Schädel zerbrochen, sondern auch sein Gebiß«, sagte ich. »Ein Jammer - Joe war so stolz darauf, und ich weiß nicht, wie Lucien Mercier es anstellen will, ihn trotzdem anständig für die Beerdigung herzurichten.«
    McAuliffe zog die Lippen zurück, als ich das sagte, und ich konnte einen Blick auf seine Zähne werfen. Er trug kein Gebiß. Ich nehme an, es sollte wie ein Lächeln aussehen, aber das tat es nicht. Nicht im mindesten.
    »Ja«, sagte er und zeigte mir seine beiden Reihen guter kleiner Zähne bis ans Zahnfleisch heran. »Ja, zu dem Schluß war ich auch gekommen - diese Porzellanscherben stammen von seinem Gebiß. Mrs. St. George, können Sie sich vorstellen, wie es passiert sein könnte, daß dieser Stein Ihren Mann traf, als er gerade im Begriff war, aus dem Brunnen herauszukommen?« 
    Eins… zwei… drei.
    »Nein«, sagte ich. »Können Sie es?«
    »Ja«, sagte er. »Ich vermute, daß ihn jemand aus der Erde gerissen hat und ihn dann grausam und vorsätzlich in sein flehend emporgewandtes Gesicht schmetterte.« Daraufhin sagte niemand ein Wort. Es drängte mich weiß Gott, etwas zu sagen; ich hätte am liebsten reagiert wie ein geölter Blitz und gesagt: Ich war es nicht. Vielleicht hat jemand es getan, aber ich war es nicht. Aber das konnte ich nicht, weil ich wieder mitten in dem Brombeergestrüpp steckte, und diesmal wimmelte es ringsum von tückischen Brunnen.
    Anstatt etwas zu sagen, saß ich einfach da und sah ihn an, aber ich spürte, wie mir wieder der Schweiß ausbrach, und auch, wie meine gefalteten Hände danach verlangten, sich zu verkrampfen. Wenn ich das tat, würden die Fingernägel weiß werden - und er würde es bemerken. McAuliffe war so gebaut, daß er solche Dinge bemerkte. Ich versuchte, an Vera zu denken und daran, wie sie ihn angeschaut hätte - so, als wäre er nur ein Batzen Hundescheiße an einem ihrer Schuhe -, aber solange seine Augen sich auf diese Weise in mich bohrten, schien auch das nicht zu helfen. Vorher war es gewesen, als wäre sie bei mir in diesem Zimmer, aber jetzt nicht mehr. Jetzt war niemand mehr da außer mir und diesem geschniegelten kleinen Schotten, der sich wahrscheinlich für eine Art Amateurdetektiv hielt, so einen wie in den Zeitschriften-Geschichten (und dessen Aussage, wie ich später herausfand, schon mehr als ein Dutzend Leute aus den Küstenorten ins Gefängnis gebracht

Weitere Kostenlose Bücher