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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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trinken hatte«, sagte ich. »Ich glaubte, wir könnten friedlich beieinandersitzen und die Finsternis betrachten, und er würde mich in Ruhe lassen.« 
    Ich weinte nicht, jedenfalls nicht richtig, aber ich spürte, wie mir eine Träne über die Wange rollte. Manchmal denke ich, es hat an ihr gelegen, daß ich die nächsten dreißig Jahre auf Little Tall weiterleben konnte - an dieser einen Träne. Wenn sie nicht gewesen wäre, so hätten sie mich vielleicht vertrieben mit ihrem Getuschel und Gekrittel, sie hätten ständig hinter meinem Rücken mit dem Finger auf mich gezeigt - ja, letzten Endes hätten sie es vielleicht geschafft. Ich bin zäh, aber ich weiß nicht, wie zäh man sein muß, um dreißig Jahre Klatsch durchzustehen und anonyme kleine Zettel, auf denen steht: »Du bist mit einem Mord durchgekommen.« Ich bekam ein paar von diesen Zetteln - und ich kann mir auch recht gut vorstellen, von wem sie stammten -, aber als im Herbst die Schule wieder anfing, war damit Schluß. Und so könnte man vermutlich sagen, daß ich den gesamten Rest meines Lebens dieser einen Träne verdanke - und Garrett, der durchsickern ließ, daß ich letzten Endes doch nicht zu hartherzig gewesen war, um wegen Joe eine Träne zu vergießen. Es steckte keinerlei Berechnung dahinter, das kann ich euch versichern. Ich mußte daran denken, wie leid es mir tat, daß Joe so leiden mußte, wie er nach Ansicht des geschniegelten kleinen Schotten gelitten hat. Trotz allem, was er getan hatte und wie ich ihn haßte, seit ich dahinter gekommen war, was er Selena hatte antun wollen, hatte ich nie gewollt, daß er litt. Ich dachte, der Sturz würde ihn umbringen,  Andy - ich schwöre beim Namen Gottes, daß ich dachte, der Sturz würde ihn auf der Stelle umbringen. 
    Der arme alte Garrett Thibodeau wurde so rot wie ein Stopsignal. Er fummelte ein Kleenex aus der Schachtel auf seinem Tisch und hielt es mir hin, ohne mich dabei anzusehen - wahrscheinlich glaubte er, daß dieser Träne eine ganze Flut folgen würde -, und entschuldigte sich dafür, daß er mir »eine derart belastende Befragung« zugemutet hatte. Ich wette, das waren so ziemlich die schwierigsten Worte, die er kannte.
    Daraufhin gab McAuliffe ein Geräusch von sich, das sich anhörte wie humpf, sagte, daß er bei der Leichenschau anwesend sein würde, wo ich meine Aussage machen müßte, und dann ging er - stampfte hinaus und knallte die Tür so heftig ins Schloß, daß die Scheibe klirrte. Garrett ließ ihm Zeit, zu verschwinden, dann begleitete er mich zur Tür, wobei er meinen Arm hielt und mich immer noch nicht ansah (es war irgendwie komisch) und die ganze Zeit murmelte. Ich weiß nicht, was er murmelte, aber was es auch gewesen sein mag - ich nehme an, das war Garretts Art zu sagen, daß ich ihm leid tat. Dieser Mann hatte ein weiches Herz - und um noch etwas über Little Tall zu sagen: wo sonst hätte ein Mann wie er nicht nur zwanzig Jahre lang Polizist sein können, sondern nach dieser Zeit, als er sich schließlich ins Privatleben zurückzog, noch ein Essen zu seinen Ehren bekommen, bei dem alle aufstanden und Beifall klatschten? Ich werde euch sagen, was ich denke - ein Ort, an dem ein warmherziger Mann als Polizist geliebt und geachtet wird, ist kein schlechter Ort. Ganz und gar nicht. Trotzdem - ich bin nie glücklicher gewesen, eine Tür hinter mir ins Schloß fallen zu hören, als in dem Moment, in dem Garrett sie hinter mir zumachte.
    Also das hatte ich hinter mir, und damit verglichen war die Leichenschau am nächsten Tag ein Kinderspiel. McAuliffe stellte mir so ziemlich die gleichen Fragen, und es waren harte Fragen, aber sie konnten mir nichts mehr anhaben, und das wußten wir beide. Meine eine Träne war schön und gut, aber McAuliffes Fragen - und die Tatsache, daß jedermann sehen konnte, daß er auf mich stocksauer war  - trugen eine Menge dazu bei, das Gerede auszulösen, das seither auf der Insel die Runde macht. Aber wenn schon - Gerede hätte es auf jeden Fall gegeben, da bin ich ganz sicher.
    Das Urteil lautete auf Tod durch Unfall. Es gefiel McAuliffe ganz und gar nicht, und zum Schluß las er seine Untersuchungsergebnisse mit tonloser Stimme vor, wobei er nicht ein einziges Mal aufsah; aber was er sagte, war amtlich genug: Joe war betrunken in den Brunnen gefallen, hatte wahrscheinlich längere Zeit vergeblich um Hilfe gerufen und dann versucht, aus eigenen Kräften herauszuklettern. Er schaffte es fast bis ganz nach oben, dann hängte er sein

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