Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Fleck sehen. Ich rannte, so schnell ich konnte, und schrie, »Halt, Vera! Halt!«, bis meine Kehle rauh war.
    Sie überquerte den Absatz und streckte einen Fuß ins Leere. Was immer ich tat, ich hätte sie nicht mehr retten können - alles, was ich hätte tun können, war, mich von ihr mit hinunterziehen zu lassen -, aber in einer derartigen Situation hat man keine Zeit, zu überlegen oder Risiken abzuschätzen. Ich sprang, um sie aufzuhalten, genau in dem Moment, in dem sie ihren Fuß ins Leere setzte und vornüber zu kippen begann. Ich konnte einen letzten Blick auf ihr Gesicht erhäschen. Ich glaube, sie wußte nicht, daß sie stürzte; da war nichts außer verstörter Panik. Ich habe diesen Ausdruck schon öfters gesehen, aber noch nie so total, und ich kann euch versichern, mit der Angst vorm Fallen hatte das nichts zu tun. Sie dachte an das, was hinter ihr war, nicht an das vor ihr.
    Ich griff zu und bekam nichts zu fassen als eine winzige Falte ihres Nachthemds zwischen dem Zeige- und dem Mittelfinger meiner linken Hand. Sie entglitt ihnen wie ein Flüstern.
    »Doh-lorrr…« kreischte sie, und dann gab es einen dumpfen, massigen Aufprall. Mir gefriert das Blut, wenn ich mich an dieses Geräusch erinnere; es war genau so wie das, das Joe machte, als er auf dem Grund des Brunnens landete. Ich sah, wie sie sich überschlug, ihre Beine hochflogen und aussahen, als gehörten sie dem schlappsten Cheerleader der Welt, und dann knackte etwas. Das Geräusch war so klar und hart wie ein Stück Anmachholz, das man über dem Knie zerbricht. Ich sah, wie an der Seite ihres Kopfes Blut hervorquoll, und das war alles, was ich sehen wollte. Ich drehte mich so schnell um, daß sich meine Füße verhakten und ich auf den Knien landete. Ich schaute über den Flur und zu ihrem Zimmer hin, und was ich sah, ließ mich aufschreien. Es war Joe. Ein paar Sekunden lang sah ich ihn so deutlich, wie ich dich hier sehe, Andy; ich sah sein staubiges, grinsendes Gesicht, wie es mich von unter ihrem Rollstuhl hervor anschaute, durch die Speichen des Rades hindurch, das in der Tür steckengeblieben war.
    Dann war es fort, und ich hörte sie stöhnen und weinen. Ich hätte nie geglaubt, daß sie den Sturz überleben würde; ich kann es immer noch nicht glauben. Natürlich war auch Joe nicht sofort tot gewesen, aber er war ein Mann in den besten Jahren, und sie war eine schlappe alte Frau, die ein halbes Dutzend leichte und mindestens drei schwere Schlaganfälle hinter sich hatte. Außerdem war da kein Schlamm, der ihren Sturz hätte auffangen können, wie er seinen aufgefangen hatte.
    Ich wollte nicht zu ihr runtergehen, wollte nicht sehen, wo sie verletzt war und blutete, aber mir blieb natürlich nichts anderes übrig; außer mir war niemand da, und das bedeutete, daß es an mir war. Als ich aufstand (meine Knie waren so weich, daß ich mich am Pfosten des Treppengeländers hochziehen mußte), trat ich mit einem Fuß auf den Saum meines Unterrocks. Der andere Träger riß, und ich hob mein Kleid ein Stückchen an, so daß ich ihn ausziehen konnte - auch das war genau so wie damals. Ich erinnere mich, daß ich an meinen Beinen herunterschaute, um zu sehen, ob sie von den Dornen im Brombeergestrüpp zerkratzt waren und bluteten, aber da war natürlich nichts dergleichen.
    Mir war, als hätte ich Fieber. Wenn ihr einmal richtig krank gewesen seid und hohe Temperatur hattet, dann wißt ihr, was ich meine; man hat nicht das Gefühl, ganz und gar außerhalb der Welt zu sein, aber man scheint auch nicht ganz in ihr zu sein. Es ist ungefähr so, als hätte sich alles in Glas verwandelt, und als wäre nichts mehr da, das man fest anpacken kann; alles ist glatt und schlüpfrig. So war mir zumute, als ich dort auf dem Treppenabsatz stand, mich ans Geländer klammerte und dorthin runterschaute, wo Vera gelandet war.
    Sie lag ungefähr auf halber Höhe der Treppe, und beide Beine waren so unter ihr verrenkt, daß man sie kaum sehen konnte. Blut lief über eine Seite ihres armen alten Gesichts. Als ich hinuntertaumelte zu der Stelle, an der sie lag, wobei ich mich immer noch ans Treppengeländer klammerte, um nicht selbst zu stürzen, drehte sich eines ihrer Augen in seiner Höhle und richtete sich auf mich. Es war der Blick eines Tieres, das in eine Falle geraten ist.
    »Dolores«, flüsterte sie. »Dieser Mistkerl ist all die Jahre hinter mir her gewesen.«
    »Still«, sagte ich. »Nicht reden.«
    »Doch, das ist er«, sagte sie, als hätte ich ihr

Weitere Kostenlose Bücher