Dolores
Preis! Der grauenhafte Preis!
Andy, könnte ich vielleicht noch einen winzigen Schluck aus deiner Flasche haben? Ich verrate es keiner Menschenseele.
Danke. Und ich danke auch dir, Nancy Bannister, daß du ein so langatmiges altes Weib wie mich bis hierher ertragen hast. Machen deine Finger noch mit?
Sie tun es? Gut. Verlier jetzt nicht den Mut; ich weiß, ich hab das Pferd von hinten aufgezäumt, aber jetzt bin ich wohl endlich bei dem angekommen, was ihr wirklich hören wollt. Das ist gut; es ist schon spät und ich bin müde. Ich habe mein Leben lang gearbeitet, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals so müde gewesen zu sein, wie ich es jetzt bin.
Gestern morgen - es kommt mir vor, als wäre es sechs Jahre her, aber es war erst gestern - war ich draußen und hängte Wäsche auf, und Vera hatte einen ihrer klaren Tage. Gerade deshalb kam alles so unerwartet, und das ist zum Teil auch der Grund dafür, daß ich so durcheinander war. Wenn sie ihre klaren Tage hatte, wurde sie manchmal gemein, aber dies war das erste und letzte Mal, daß sie verrückt wurde.
Also, ich war unten auf dem Hof, und sie saß oben in ihrem Rollstuhl und überwachte das Unternehmen, wie sie es immer tat. Von Zeit zu Zeit rief sie herunter: »Sechs Klammern, Dolores! Sechs Klammern an jedes von diesen Laken! Versuchen Sie nicht, mit vieren durchzukommen, ich passe nämlich auf!«
»Ja«, sagte ich, »ich weiß, und ich wette, Sie wollten, es wäre zwanzig Grad kälter und wir hätten einen Zwanzig-Knoten-Wind.«
»Was?« krächzte sie zu mir herunter.» Was haben Sie da gesagt, Dolores Claiborne?«
»Ich habe gesagt, jemand scheint seinen Garten zu düngen«, sagte ich, »weil ich nämlich viel mehr Mist rieche als gewöhnlich.«
»Sie kommen sich wohl sehr schlau vor, Dolores?« rief sie mit ihrer brüchigen, bebenden Stimme.
Sie hörte sich an wie an jedem der Tage, an dem ein paar Sonnenstrahlen mehr als üblich den Weg in ihr Oberstübchen fanden. Ich wußte, daß sie vielleicht später etwas anstellen würde, aber das störte mich nicht weiter fürs erste war ich einfach froh, daß sie sich so vernünftig anhörte. Um euch die Wahrheit zu sagen, es war fast so wie früher. In den letzten drei oder vier Monaten war sie nicht mehr gewesen als eine Nummer, und es war irgendwie gut, daß sie wieder da war - oder jedenfalls so viel von der alten Vera, wie überhaupt zurückkommen konnte, wenn ihr versteht, was ich meine.
»Nein, Vera«, rief ich hinauf. »Wenn ich schlau wäre, hätte ich schon vor langer Zeit aufgehört, für Sie zu arbeiten.«
Ich rechnete damit, daß sie noch etwas zu mir runterrufen würde, aber sie tat es nicht; also machte ich weiter mit dem Aufhängen ihrer Laken und Windeln und Waschlappen und allem übrigen. Dann hörte ich auf, obwohl der Korb noch halb voll war. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ich kann nicht sagen, warum oder auch nur wann es mich überkam. Ganz plötzlich war es da - ein sehr ungutes Gefühl. Und für einen Moment schoß mir ein ganz merkwürdiger Gedanke durch den Kopf: Dieses Mädchen ist in Gefahr - dasjenige, das ich am Tag der Sonnenfinsternis gesehen habe. Es ist inzwischen erwachsen, fast so alt wie Selena, aber es ist in einer schrecklichen Gefahr.
Ich drehte mich um und schaute hinauf, erwartete fast, die Erwachsenenversion des kleinen Mädchens in seinem gestreiften Kleid und mit dem rosa Lippenstift zu sehen, aber ich sah niemanden. Und das war falsch. Es war falsch, denn Vera hätte da sein und den Kopf aus dem Fenster strecken müssen, um aufzupassen, daß ich auch ja die richtige Zahl von Wäscheklammern benutzte. Aber sie war verschwunden, und ich begriff nicht, wie das möglich war, weil ich sie selbst in den Rollstuhl gesetzt, zum Fenster geschoben und dann die Bremse angezogen hatte.
Dann hörte ich sie schreien.
»Doh-lorrrr-isss!«
Als ich das hörte, überlief es mich eiskalt, Andy! Es war, als wäre Joe zurückgekommen und jetzt bei ihr im Zimmer. Einen Augenblick lang stand ich nur wie erstarrt da. Dann schrie sie wieder, und bei diesem zweiten Schrei begriff ich, daß sie es war.
»Doh~lorrrr-iss! Die Staubflocken! Sie sind überall. Oh Gott! Oh Gott! Doh-lornr-isss, Hilfe! Helfen Sie mir!« Ich wollte ins Haus rennen, stolperte aber über den verdammten Wäschekorb und fiel über ihn in die Laken, die ich gerade aufgehängt hatte. Ich verwickelte mich in ihnen und mußte mich herausstrampeln. Einen Augenblick lang war es, als hätten die Laken Hände
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