Dolores
widersprochen. »Oh, dieser Bastard. Dieser hundsgemeine Bastard!«
»Ich gehe nach unten«, sagte ich. »Ich muß den Arzt anrufen.«
»Nein«, sagte sie. Sie streckte eine Hand aus und ergriff mein Handgelenk. »Keinen Arzt. Kein Krankenhaus. Die Staubflocken - sogar dort. Überall.«
»Das wird schon wieder, Vera«, sagte ich und entzog ihr meine Hand. »Solange Sie ganz ruhig liegenbleiben und sich nicht bewegen, geht es Ihnen gut.«
»Dolores Claiborne sagt, es ginge mir gut« sagte sie, und es war diese trockene, sarkastische Stimme, mit der sie immer gesprochen hatte, bevor sie ihre Schlaganfälle hatte und nicht mehr klar im Kopf war. »Was für eine Wohltat, eine fachmännische Meinung zu hören!«
Diese Stimme zu vernehmen nach all den Jahren, in denen sie verstummt gewesen war, war wie ein Schlag ins Gesicht. Sie riß mich aus meiner Panik heraus, und ich sah ihr zum ersten Mal richtig ins Gesicht, so, wie man einen Menschen ansieht, der genau weiß, was er sagt, und jedes Wort davon meint.
»Ich bin so gut wie tot«, sagte sie, »und das wissen Sie ebensogut wie ich. Ich glaube, mein Rückgrat ist gebrochen. Und außerdem beide Beine und beide Hüften.«
»Das wissen Sie nicht, Vera«, sagte ich, aber jetzt war ich nicht mehr so versessen darauf, ans Telefon zu gehen. Ich glaube, ich wußte, was kommen würde, und ich wußte nicht, wie ich ihren Wunsch abschlagen konnte, wenn sie mich um das bat, um das sie mich vermutlich bitten würde. Ich stand in ihrer Schuld seit jenem verregneten Herbsttag im Jahre 1962, als ich auf ihrem Bett gesessen und mir die Augen aus dem Kopf geheult hatte mit der Schürze vor dem Gesicht, und die Claibornes haben immer ihre Schulden bezahlt.
Als sie wieder sprach, war sie so klar im Kopf, wie sie es vor dreißig Jahren gewesen war, als Joe noch lebte und die Kinder noch im Haus waren. »Ich weiß, daß es nur noch eine Sache gibt, in der ich mich entscheiden muß«, sagte sie, »und das ist, ob ich zu meiner Zeit sterben will oder zu der irgendeines Krankenhauses. Dessen Zeit wäre zu lang. Meine Zeit ist jetzt gekommen, Dolores. Ich bin es satt, das Gesicht meines Mannes in den Ecken zu sehen, wenn ich schwach und verwirrt bin. Ich bin es satt, zu sehen, wie sie im Mondschein die Corvette aus dem Steinbruch hieven, wie das Wasser aus dem offenen Fenster an der Beifahrerseite herausläuft…«
»Vera, Sie wissen nicht, wovon Sie reden«, sagte ich; jedenfalls wußte ich es nicht. Ihr Mann war mit einem BMW verunglückt, nicht mit einer Corvette, und bis zu diesem Augenblick hatte ich noch nie etwas von einem Steinbruch gehört. An diesem Tag im Jahre 1962, an dem ich in ihrem Zimmer in Tränen ausgebrochen war, hatte Vera gesagt, er wäre gegen einen Baum gefahren.
Sie hob ihre Hand und schwenkte sie ein oder zwei Sekunden lang auf ihre alte ungeduldige Art; dann fiel die Hand wieder auf die Stufe neben ihr. »Ich habe es satt, mir die Beine vollzupissen und schon eine halbe Stunde, nachdem mich jemand besucht hat, nicht mehr zu wissen, wer es war. Ich will Schluß machen. Helfen Sie mir?«
Ich kniete neben ihr nieder, ergriff die Hand, die auf die Stufe gefallen war, und drückte sie an meine Brust. Ich dachte an das Geräusch, das der Stein gemacht hatte, als er Joe ins Gesicht traf - das Geräusch eines Porzellantellers, der auf einem Ziegelsteinboden zerbricht. Ich fragte mich, ob ich dieses Geräusch noch einmal hören konnte, ohne den Verstand zu verlieren. Und ich wußte, daß es sich genau so anhören würde, weil sie sich angehört hatte wie er, als sie meinen Namen rief, sie hatte sich angehört wie er, als sie stürzte und auf den Stufen landete, so zerbrochen, wie sie immer befürchtet hatte, daß die Mädchen die empfindlichen Glassachen zerbrechen würden, die sie in ihrem Wohnzimmer hatte; und mein Unterrock lag auf dem oberen Treppenabsatz wie ein kleines Knäuel aus weißem Nylon mit zwei gerissenen Trägern, und auch das war genau wie damals. Wenn ich ihr den Rest gab, dann würde es sich ganz genau so anhören, wie es sich angehört hatte, als ich ihm den Rest gab, und ich wußte es. Ja. Ich wußte es so genau, wie ich weiß, daß die Hast Lane an dieser morschen Treppe endet, die an der Seite vom East Head hinunterführt.
Ich hielt ihre Hand und dachte darüber nach, wie die Welt ist - wie schlechte Männer manchmal bei einem Unfall ums Leben kommen und gute Frauen zu Ludern werden. Ich sah, wie sie hilflos die Augen verdrehte, um mir ins
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