Dolores
halten.
Dann läutete es an der Tür. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich noch eine ganze Weile länger so dagesessen. Aber ihr wißt ja, wie das mit dem Läuten ist - man hat einfach das Gefühl, hingehen und aufmachen zu müssen. Ich stand auf und ging die Stufen hinunter, ganz langsam, eine nach der anderen, wie eine zehn Jahre ältere Frau (die Wahrheit ist, daß ich mir auch zehn Jahre älter vorkam), wobei ich mich die ganze Zeit am Geländer festhielt. Die Welt fühlte sich immer noch so an, als wäre sie aus Glas, und ich mußte verdammt gut aufpassen, daß ich nicht ausrutschte und mich schnitt, als ich das Geländer losließ und durch die Diele zur Haustür ging.
Es war Sammy Marchant mit seinem Briefträgerhut, den er wie gewöhnlich auf seine alberne Art ins Genick geschoben hatte - wahrscheinlich bildet er sich ein, er sähe aus wie ein Rockstar, wenn er seinen Hut so trägt. Er hatte die reguläre Post in der einen Hand und in der anderen ein Einschreiben, einen dieser gepolsterten Umschläge, die ungefähr jede Woche aus New York kamen Mitteilungen darüber, wie ihre Finanzen standen. Es war ein Mann namens Greenbush, der sich um ihr Geld kümmerte, habe ich euch das erzählt?
Das habe ich? Okay - danke. Ich habe so viel gequasselt, daß ich langsam nicht mehr weiß, was ich gesagt habe und was nicht.
Manchmal waren in diesen Einschreib-Umschlägen Papiere, die unterschrieben werden mußten. In den meisten Fällen schaffte Vera das Unterschreiben, wenn ich ihren Arm ruhig hielt, aber einige Male war sie so benebelt, daß ich ihren Namen daruntersetzte. Da war nichts dabei, und es gab nie irgendwelche Rückfragen. In den letzten drei oder vier Jahren war ihre Unterschrift ohnehin nur noch ein Krakel. Das ist also noch etwas, wofür ihr mich drankriegen könnt, wenn ihr es wirklich wollt: Urkundenfälschung.
Sammy streckte mir den gepolsterten Umschlag entgegen, sowie die Tür aufging - er wollte, daß ich dafür unterschriebe, wie ich es bei den Einschreiben immer getan hatte -, aber als er mich genauer in Augenschein nahm, weiteten sich seine Augen, und er machte einen Schritt rückwärts. Es war im Grunde mehr ein Ruck als ein Schritt - und wenn man bedenkt, daß es sich um Sammy Marchant handelte, dürfte das genau das richtige Wort sein. »Dolores!« sagte er. »Ist alles in Ordnung? Du hast Blut am Kleid!«
»Das ist nicht mein Blut«, sagte ich, und meine Stimme war so gelassen, als hätte er mich gefragt, was ich mir gerade im Fernsehen ansähe, und ich hätte es ihm gesagt. »Es ist von Vera. Sie ist die Treppe runtergefallen. Sie ist tot.«
»Großer Gott«, sagte er, dann rannte er an mir vorbei ins Haus, daß ihm seine Posttasche gegen die Hüfte schlug. Der Gedanke, ihm den Zutritt zu verwehren, kam mir überhaupt nicht, und fragt euch selbst: was wäre dabei herausgekommen, wenn ich es getan hätte?
Ich folgte ihm langsam. Dieses glasige Gefühl verging, aber mir war, als hätten meine Schuhe Bleisohlen. Als ich am Fuß der Treppe ankam, war Sammy schon auf halber Höhe und kniete neben Vera. Bevor er sich hinkniete, hatte er seine Posttasche abgenommen; sie war fast die ganze Treppe runtergerutscht, und die Stufen waren übersät mit Briefen und Stromrechnungen und L.L. Bean - Katalogen.
Ich stieg zu ihm hinauf, schleppte meine Füße von einer Stufe zur nächsten. Nicht einmal, nachdem ich Joe umgebracht hatte, war ich so kaputt gewesen wie gestern morgen.
»Sie ist tatsächlich tot«, sagte er und sah sich um.
»Ja«, erwiderte ich. »Das habe ich doch gesagt.«
»Ich dachte, sie könnte nicht laufen«, sagte er. »Du hast doch immer behauptet, sie könnte nicht laufen.«
»Nun«, sagte ich, »anscheinend habe ich mich geirrt.« Es kam mir blöd vor, das zu sagen, während sie so dalag, aber was zum Teufel hätte ich sonst sagen sollen? In gewisser Hinsicht war es leichter gewesen, mit John McAuliffe zu reden, weil ich genau das getan hatte, dessen McAuliffe mich verdächtigte. Das Problem mit der Unschuld ist, daß man sich mehr oder weniger an die Wahrheit halten muß.
»Was ist das?« fragte er und zeigte auf das Nudelholz. Ich hatte es auf der Treppe liegen gelassen, als es läutete.
»Was glaubst du denn, was es ist?« fragte ich zurück. »Ein Vogelkäfig?«
»Sieht aus wie ein Nudelholz«, sagte er.
»Kluges Kind«, sagte ich. Mir war, als käme meine eigene Stimme von irgendwo weit fort. »Vielleicht überraschst du alle Leute und es
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