Dolores
dann hättest du es schon getan. Und jetzt hör mir zu - es tut mir leid, daß du mich mit diesem Beil in der Hand sehen mußtest; mir tut alles leid, was du an diesem Abend gehört und gesehen hast. Wenn ich gewußt hätte, daß es dich so ängstigen und unglücklich machen würde, dann hätte ich mich nicht gewehrt, so sehr er es auch verdient hatte.«
»Kannst du nicht endlich aufhören?« fragte sie, und dann riß sie sich vollends von mir los und legte die Hände über die Ohren. »Ich will nichts mehr hören. Ich will einfach nichts mehr hören!«
»Ich kann nicht aufhören, weil das vorbei und erledigt ist. Daran läßt sich nichts mehr ändern«, sagte ich, »aber bei dir liegen die Dinge anders. Also laß dir helfen, Liebling. Bitte.« Ich versuchte, einen Arm um sie zu legen und sie an mich zu ziehen.
»Nicht! Du sollst mich nicht schlagen! Du sollst mich nicht einmal anfassen, du Luder!« schrie sie und fuhr zurück. Sie stolperte gegen die Reling, und ich war sicher, daß sie drüberkippen und in den Bach gehen würde. Mein Herz war wie gelähmt, aber meine Hände Gott sei Dank nicht. Ich streckte sie aus, erwischte sie beim Vorderteil ihres Mantels und zog sie wieder an mich heran. Dabei rutschte ich in etwas Nassem aus und wäre beinahe gestürzt. Aber ich fand mein Gleichgewicht wieder, und als ich aufschaute, holte sie aus und schlug mir ins Gesicht.
Ich kümmerte mich nicht darum,.sondern ergriff sie wieder und zog sie an mich. In einem Augenblick wie diesem muß man einem Kind in Selenas Alter einiges durchgehen lassen, sonst entgleitet es einem völlig. Außerdem hatte der Schlag kein bißchen wehgetan. Ich hatte nur Angst, sie zu verlieren - und zwar nicht nur aus meinem Herzen. In dieser einen Sekunde war ich sicher gewesen, daß sie mit dem Kopf vorweg und den Füßen in der Luft über die Reling gehen würde. Ich war so sicher, daß ich es sehen konnte. Es ist ein Wunder, daß meine Haare nicht schon damals grau geworden sind.
Dann weinte sie und sagte, es täte ihr leid, sie hätte mich nicht schlagen wollen, es wäre keine Absicht gewesen, und ich sagte ihr, das wüßte ich. »Mach dir deshalb keine Gedanken«, sagte ich, und was sie dann sagte, ließ mich fast zu Stein erstarren. »Du hättest mich nicht zurückhalten sollen, Mommy«, sagte sie. »Du hättest zulassen sollen, daß ich über Bord gehe.«
Ich hielt sie auf Armeslänge von mir - inzwischen weinten wir beide - und sagte: »Nichts könnte mich dazu bringen, sowas zu tun, mein Liebling.«
Sie drehte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Ich kann es nicht mehr ertragen, Mommy - ich kann es einfach nicht. Ich komme mir so schmutzig und durcheinander vor, und ich kann einfach nicht mehr glücklich sein, so sehr ich es auch versuche.«
»Was ist es, Selena?« fragte ich und bekam es wieder mit der Angst zu tun. »Was ist es, Selena?«
»Wenn ich es dir sage«, sagte sie, »dann wirst du mich wahrscheinlich selbst über die Reling stoßen.«
»Du weißt genau, das ich das nicht tun würde«, sagte ich. »Und ich sage dir noch etwas, mein Kleines - du setzt keinen Fuß aufs trockene Land, bevor du reinen Tisch gemacht hast. Und wenn wir dazu den Rest des Jahres auf dieser Fähre hin und her gondeln müssen, dann tun wir es - obwohl ich glaube, daß wir zu Eisblöcken erstarrt sein werden, bevor der November zu Ende ist. Sofern wir nicht vorher von dem Zeug, das sie in dieser elenden kleinen Snackbar servieren, an Salmonellen sterben.«
Ich dachte, das würde sie zum Lachen bringen, aber sie lachte nicht. Statt dessen senkte sie den Kopf, so daß sie das Deck anschaute, und sagte etwas, ganz leise. Über den Geräuschen des Windes und der Motoren konnte ich es nicht richtig hören.
»Was hast du gesagt, Liebling?«
Sie sagte es noch einmal, und beim zweiten Mal hörte ich es, obwohl sie kaum lauter sprach. Ganz plötzlich verstand ich alles, und von diesem Augenblick an waren Joe St. Georges Tage gezählt.
»Ich wollte nie so etwas tun. Er hat mich gezwungen.« Das war es, was sie sagte.
Eine Minute lang konnte ich nur dastehen, und als ich schließlich die Arme nach ihr ausstreckte, wich sie zurück. Ihr Gesicht war so weiß wie ein Laken. Und dann schlingerte die Fähre - es war die alte Island Princess. Die Welt um mich herum war ohnehin schon schlüpfrig, und wahrscheinlich wäre ich auf dem Hintern gelandet, wenn Selena mich nicht bei der Taille gepackt hätte. In der nächsten Sekunde war ich es, die sie hielt,
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