Dolores
zu den Strayhorns mußte. Lisa McCandless und ich sollten bei ihnen die teuren Perserteppiche umdrehen; das soll man alle halbe Jahr tun, damit sie nicht ausbleichen oder gleichmäßig ausbleichen oder irgendsoetwas. Ich zog meinen Mantel an und knöpfte ihn zu und war schon fast an der Tür, als mir einfiel: Wieso ziehst du denn diesen dicken Herbstmantel an, du dumme Gans? Wir haben mindestens achtzehn Grad draußen, das reinste Spätsommerwetter. Und dann meldete sich eine andere Stimme und sagte: Aber draußen auf dem Wasser sind es keine achtzehn Grad, sondern höchstens zehn. Und feucht ist es dort außerdem. Und auf diese Weise wurde mir klar, daß ich an diesem Nachmittag nicht einmal in die Nähe des Strayhorn-Hauses gehen würde. Statt dessen würde ich mit der Fähre nach Jonesport rüberfahren und mit meiner Tochter ins Reine kommen. Ich rief Lisa an, sagte ihr, daß wir uns ein andermal um die Teppiche kümmern würden, und machte mich auf den Weg zum Fähranleger. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um die Fähre um viertel nach zwei zu erreichen. Wenn ich sie verpaßt hätte, dann hätte ich Selena wahrscheinlich auch verpaßt, und wer weiß, wie sich die Dinge dann entwickelt hätten.
Ich war die erste, die von der Fähre runterging - als ich auf den Kai trat, waren sie noch dabei, das letzte Tau um den letzten Poller zu legen. Ich ging direkt zur High School. Unterwegs kam mir der Gedanke, daß ich sie nicht im Lesesaal finden würde, einerlei, was sie und ihre Klassenlehrerin behaupteten; daß sie draußen hinter dem Holzschuppen sitzen würde mit all den anderen Gören die alle lachten und sich gegenseitig betatzten und vielleicht eine Flasche billigen Wein herumgehen ließen. Wenn ihr nie in einer solchen Lage gewesen seid, dann wißt ihr auch nicht, was für ein Gefühl das ist; ich kann es auch nicht beschreiben. Ich kann nur sagen: Es gibt keine Möglichkeit, sich darauf vorzubereiten, daß einem das Herz bricht. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als einfach weiterzumarschieren und bei Gott zu hoffen, daß es nicht passieren wird.
Aber als ich die Tür zum Lesesaal aufmachte und hineinschaute, war sie tatsächlich da. Sie saß an einem Schreibtisch in der Nähe der Fenster und beugte den Kopf über ein Geometriebuch. Zuerst bemerkte sie mich nicht, und ich stand nur da und sah sie an. Sie war nicht in schlechte Gesellschaft geraten, wie ich befürchtet hatte, aber es brach mir dennoch ein wenig das Herz, Andy, weil es so aussah, als wäre sie in überhaupt keine Gesellschaft geraten, und das war möglicherweise noch schlimmer. Vielleicht fand ihre Klassenlehrerin es völlig in Ordnung, daß ein Mädchen nach Schulschluß ganz allein im Lesesaal arbeitete; vielleicht hielt sie es sogar für bewundernswert.
Aber ich konnte daran nichts Bewundernswertes sehen, und auch nichts Gesundes. Es waren nicht einmal die Nachsitzer da, um ihr Gesellschaft zu leisten, weil die in der Jonesport-Beals High in der Bibliothek brummen müssen.
Sie hätte bei ihren Freundinnen sein sollen, vielleicht Musik hören oder mit ihnen über irgendeinen Jungen reden - und statt dessen saß sie hier in den staubigen Strahlen der Nachmittagssonne, saß da in dem Mief von Kreide und Bohnerwachs und diesem widerlichen roten Sägemehl, das sie ausstreuen, wenn alle Schüler nach Hause gegangen sind. Sie saß da, den Kopf so tief über das Buch gebeugt, daß man hätte meinen können, es enthielte alle Geheimnisse des Lebens und des Todes.
»Hallo, Selena«, sagte ich. Sie fuhr zusammen wie ein verschrecktes Kaninchen und stieß die Hälfte ihrer Bücher vom Tisch, als sie herumfuhr, um zu sehen, wer sie angesprochen hatte. Ihre Augen waren so groß, daß es aussah, als nähmen sie die ganze obere Hälfte ihres Gesichts ein, und was ich von ihren Wangen und ihrer Stirn sehen konnte, war so bleich wie Buttermilch in einer weißen Tasse. Das heißt, außer an den Stellen, an denen die neuen Pickel saßen. Die zeichneten sich grellrot ab, wie Brandmale.
Dann sah sie, daß ich es war. Das Entsetzen verging, aber kein Lächeln trat an seine Stelle. Es war, als wäre ein Rolladen über ihr Gesicht geglitten - oder als säße sie in einer Burg und hätte gerade die Zugbrücke hochgezogen. Ja, ungefähr so. Versteht ihr, was ich zu erklären versuche?
»Momma!« sagte sie. »Was willst du denn hier?«
Ich dachte daran, zu sagen: »Ich bin gekommen, um mit dir auf der Fähre heimzufahren und von dir ein paar Antworten zu
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