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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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natürlich fing es an mit dem Abend, an dem ich Joe mit dem Sahnekrug geschlagen hatte und Selena an die Tür gekommen war und ihn gesehen hatte mit der Hand über dem blutenden Ohr und mich mit dem Beil in der Hand, als hätte ich tatsächlich vorgehabt, ihm damit den Kopf abzuhacken. Alles, was ich wollte, war ihn dazu zu bringen, daß er aufhörte, Andy, und dafür riskierte ich mein Leben, aber davon hat sie nichts gesehen. Alles, was sie sah, addierte sich auf seiner Seite des Kontobuchs. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, sagt man, und ich weiß, daß es stimmt. Das weiß ich aus eigener, bitterer Erfahrung. Was ich nicht weiß, ist, warum das so ist - warum der Versuch, Gutes zu tun, so oft Böses im Gefolge hat. Aber darüber sollen sich klügere Leute den Kopf zerbrechen.
    Ich habe nicht vor, die ganze Geschichte hier zu erzählen, nicht Selenas wegen, sondern weil sie zu lang ist und zu sehr schmerzt, sogar heute noch. Aber ich werde euch erzählen, was sie zuerst gesagt hat. Das werde ich nie vergessen, weil mir dabei wieder klar wurde, was für ein Unterschied besteht zwischen dem, wie die Dinge aussehen, und dem, wie sie wirklich sind - zwischen dem Außen und dem Innen.
    »Er sah so traurig aus, wie er da in seinem Sessel saß«, sagte sie. »Das Blut lief ihm zwischen den Fingern hindurch, und er hatte Tränen in den Augen, und er sah so furchtbar traurig aus. Ich haßte dich mehr wegen dieses Ausdrucks als wegen des Blutes und der Tränen, Mommy, und ich wußte, daß ich es an ihm wieder gutmachen mußte. Bevor ich wieder ins Bett ging, kniete ich nieder und betete. Lieber Gott, sagte ich, wenn du verhinderst, daß sie ihm noch mehr wehtut, dann werde ich es an ihm wieder gutmachen. Das schwöre ich. Um Jesu willen, Amen.«
    Könnt ihr euch vorstellen, wie mir zumute war, als ich das von meiner Tochter hörte, ein Jahr oder länger, nachdem ich geglaubt hatte, die Sache wäre ein für allemal erledigt? Kannst du dir das vorstellen, Andy? Frank? Und wie steht es mit dir, Nancy Bannister aus Kennebunk? Nein - ich sehe, ihr könnt es nicht. Und ich bete zu Gott, daß ihr es nie müßt.
    Sie fing an, nett zu ihm zu sein. Sie brachte ihm irgendwas Leckeres, wenn er draußen im Schuppen war und an einem Schneemobil oder Außenbordmotor arbeitete, sie setzte sich zu ihm, wenn wir abends fernsahen, sie saß mit ihm zusammen auf der Veranda, während er an irgend etwas schnitzte und hörte zu, wenn er sein übliches politisches Gewäsch von sich gab - wie Kennedy es zuließ, daß die Juden und die Katholiken überall das Sagen hatten, wie die Kommunisten versuchten, die Nigger unten im Süden in die Schulen und in die Restaurants zu bringen, und daß das Land bald vor die Hunde gehen würde. Sie hörte zu, lachte über seine Witze, rieb ihm die Hände ein, wenn sie aufgesprungen waren, und er war nicht zu taub, um zu hören, daß hier eine Gelegenheit anklopfte. Er hörte auf, ihr Vorträge über Politik zu halten, und hielt ihr statt dessen Vorträge über mich - wie unberechenbar ich sein konnte, wenn mir etwas gegen den Strich ging, und alles, was nicht stimmte mit unserer Ehe. Nach seiner Version war es natürlich einzig meine Schuld.
    Es war im späten Frühjahr 1962, als er anfing, sie auf eine Art zu berühren, die ein bißchen mehr war als nur väterlich. Aber das war zu Anfang alles - ein leichtes Streicheln ihres Beines, wenn sie nebeneinander auf der Couch saßen und ich gerade nicht im Zimmer war, kleine Klapse auf den Hintern, wenn sie ihm Bier in den Schuppen hinausbrachte. Damit fing es an, und von da ging es dann weiter. Mitte Juli war es dann so weit, daß sich die arme Selena vor ihm ebenso fürchtete wie bereits vor mir. Als ich schließlich auf die Idee kam, zum Festland hinüberzufahren und ein paar Antworten aus ihr herauszuholen, hatte er so ziemlich alles getan, was ein Mann mit einer Frau tun kann, außer sie zu vögeln - und ihr so viel Angst eingejagt, daß auch sie einiges mit ihm getan hatte.
    Ich nehme an, er hätte sie schon vor dem Labor Day ins Bett gezerrt, wenn nicht Joe Junior und Little Pete Ferien gehabt hätten und viel zu Hause gewesen wären. Little Pete war nur da und im Wege, aber ich bin ziemlich sicher, daß Joe Junior eine ziemlich gute Vorstellung hatte von dem, was da vorging, und daß er es bewußt darauf anlegte, es zu verhindern. Gott segne ihn, wenn er es getan hat; das ist alles, was ich dazu sagen kann. Ich selbst war bestimmt keine

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