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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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und sie weinte an meinem Hals. Ich war glücklich über jede Träne, die fiel.
    »Komm mit«, sagte ich. »Komm mit und setz dich mit mir hin. Fürs erste sind wir auf diesem Schiff lange genug von einer Seite zur anderen geschwenkt worden, meinst du nicht auch?«
    Wir hatten beide einen Arm um den anderen gelegt, und wir schlurften wie zwei Schwerkranke hinüber zu der Bank neben der hinteren Kajütstreppe. Ich weiß nicht, ob sich Selena wie eine Schwerkranke vorkam, aber ich tat es ganz sicher. Mir standen nur ein paar Tränen in den Augen, aber Selena weinte so heftig, daß es sich anhörte, als würden sich ihre Eingeweide losreißen, wenn sie nicht bald damit aufhörte. Aber ich war froh, sie auf diese Weise weinen zu hören. Erst, als ich hörte, wie sie weinte, und sah, wie ihr die Tränen über die Wangen rollten, wurde mir klar, wieviel von ihren Gefühlen verschwunden gewesen war, genau wie das Licht in ihren Augen und die Figur unter ihrer Kleidung. Natürlich wäre es mir wesentlich lieber gewesen, sie lachen zu hören, aber ich war bereit, zu nehmen, was ich kriegen konnte. 
    Wir setzten uns auf die Bank, und ich ließ sie noch eine Weile weinen. Als es endlich ein wenig nachzulassen begann, gab ich ihr das Taschentuch aus meiner Handtasche. Zuerst benutzte sie es nicht einmal. Sie sah mich nur an, mit nassen Wangen und tiefen braunen Höhlen unter den Augen, und sagte: »Du haßt mich nicht, Mommy? Wirklich nicht?«
    »Nein«, sagte ich. »Jetzt nicht, und nie und nimmer. Das verspreche ich dir hoch und heilig. Aber über eines mußt du dir klar sein. Ich möchte, daß du mir die ganze Geschichte erzählst, von Anfang an. Ich sehe dir an, daß du glaubst, das schafftest du nicht, aber ich weiß, daß du es kannst. Und vergiß nicht - du brauchst sie nie wieder zu erzählen, nicht einmal deinem eigenen Mann, wenn du es nicht willst. Es wird ungefähr so sein, als zöge man einen Splitter heraus. Auch das verspreche ich dir hoch und heilig. Hast du verstanden?«
    »Ja, Mommy, aber er hat gesagt, wenn ich es jemandem erzähle - du würdest manchmal so wütend, hat er gesagt, wie an dem Abend, an dem du ihn mit dem Sahnekrug geschlagen hast - er hat gesagt, wenn ich je auf die Idee kommen sollte, es zu erzählen, dann sollte ich an das Beil denken - und…«
    »Nein, so geht es nicht«, sagte ich. »Du mußt ganz von vorn anfangen und es dann durchstehen. Aber ich möchte von vornherein ganz sicher sein, daß ich eines richtig verstanden habe. Dein Dad hat sich an dich rangemacht, stimmt’s?«
    Sie ließ nur wortlos den Kopf sinken. Das war alles, was ich an Antwort brauchte, aber ich glaubte, daß sie selbst hören mußte, wie sie es laut und deutlich sagte. Ich legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf, bis wir uns in die Augen schauten. »Stimmt’s?«
    »Ja«, sagte sie und brach wieder in Tränen aus, aber diesmal dauerte es nicht so lange und ging auch nicht so tief. Ich ließ sie eine Weile weitermachen, weil ich selbst eine Weile brauchte, um mir klarzuwerden, wie ich weitermachen sollte. Ich konnte sie nicht fragen: Was hat er mit dir gemacht? Das wußte sie, wie ich glaubte, vermutlich selbst nicht recht. Ein paar Augenblicke lang war das einzige, woran ich denken konnte, die Frage: Hat er dich gevögelt? Aber ich dachte, sie würde es auch dann nicht wissen, wenn ich die Frage so rüde stellte. 
    Schließlich sagte ich: »Hat er seinen Penis in dir gehabt, Selena?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab ihn nicht gelassen.« Sie schluckte ein Aufschluchzen hinunter. »Jedenfalls noch nicht.«
    Daraufhin waren wir beide imstande, uns ein wenig zu entspannen - zumindest was unseren Umgang miteinander anging. Was ich innerlich fühlte, war pure Wut. Es war, als hätte ich ein inneres Auge, eines, von dem ich bis zu diesem Tag keine Ahnung gehabt hatte, und alles, was ich damit sehen konnte, war Joes langes Pferdegesicht, in dem die Lippen immer aufgesprungen waren und die großen Zähne immer gelblich und die Backen über den Wangenknochen immer rot und rissig. Danach sah ich sein Gesicht die ganze Zeit immer ganz deutlich vor mir; dieses Auge wollte sich auch dann nicht schließen, wenn die anderen beiden zu waren und ich schlief, und mir wurde klar, daß es sich erst dann schließen würde, wenn er tot war. Es war, als wäre man verliebt, nur umgekehrt.
    Inzwischen erzählte Selena ihre Geschichte vom Anfang bis zum Ende. Ich hörte zu und unterbrach sie kein einziges Mal, und

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