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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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bekommen, mein Liebling.« Aber irgendwas sagte mir, daß das das Falsche wäre in diesem Raum in diesem leeren Raum, in dem man das, was mit ihr nicht stimmte, so deutlich riechen konnte wie die Kreide und das rote Sägemehl. Ich konnte es riechen, und ich war entschlossen, herauszubekommen, was es war. So, wie sie aussah, hatte ich ohnehin schon viel zu lange gewartet. Jetzt glaubte ich nicht mehr, daß Rauschgift dahintersteckte, aber was immer es sein mochte, es war hungrig. Es fraß sie bei lebendigem Leibe.
    Ich sagte, ich hätte mich entschlossen, an diesem Nachmittag einmal nicht zu arbeiten, sondern herüberzukommen und einen kleinen Schaufensterbummel zu machen, aber ich hätte nichts gefunden, was mir gefiel. »Und da dachte ich, wir könnten vielleicht zusammen zurückfahren«, sagte ich. »Hättest du was dagegen, Selena?«
    Jetzt lächelte sie endlich. Ich hätte tausend Dollar bezahlt für dieses Lächeln - ein Lächeln, das nur mir galt. »Aber nein, Mommy«, sagte sie. »Das ist eine gute Idee.« 
    Also gingen wir zusammen den Berg hinunter zum Fähranleger, und als ich sie nach einigen ihrer Schulfächer fragte, erzählte sie mir mehr, als sie seit Wochen erzählt hatte. Nach diesem ersten Blick, mit dem sie mich bedacht hatte - wie ein verschrecktes Kaninchen angesichts eines Katers - schien sie mehr sie selbst zu sein als seit Monaten, und ich begann zu hoffen. 
    Nun, Nancy hier weiß vielleicht nicht, wie leer die Fähre um viertel vor fünf nach Little Tall und den äußeren Inseln ist, aber ich nehme an, ihr beide, Andy und Frank, ihr wißt es. Die meisten Leute, die auf dem Festland arbeiten, fahren mit der um halb sechs nach Hause, und mit der um viertel vor fünf wird fast ausschließlich Paketpost befördert, UPS, Waren für die Läden und Obst und Gemüse für den Markt. Und deshalb hatten wir, obwohl es ein wunderschöner Herbstnachmittag war, bei weitem nicht so kalt und feucht, wie ich gedacht hatte, das Achterdeck fast für uns allein.
    Da standen wir eine Weile und schauten zu, wie sich das Kielwasser zum Festland hinzog. Die Sonne stand schon ziemlich tief und legte eine Spur übers Wasser, und das Kielwasser zerbrach sie und ließ sie aussehen wie Goldstücke. Als ich ein kleines Mädchen war, sagte mein Dad immer, es wäre Gold, und manchmal kämen die Meerjungfrauen herauf und holten es sich. Er sagte, sie verwendeten diese Scherben der Spätnachmittagssonne als Schindeln für ihre Zauberschlösser auf dem Grund des Meeres. So oft ich diese zerbrochene Goldspur auf dem Wasser sah, hielt ich immer nach den Meerjungfrauen Ausschau, und bis ich ungefähr so alt war wie Selena um diese Zeit, habe ich nie daran gezweifelt, daß es sie gab, weil mein Dad gesagt hatte, es gäbe sie.
    An diesem Tag hatte das Wasser diesen dunklen, seidigen Blauton, den man nur an stillen Oktobertagen sieht, und das Brummen der Diesel war beruhigend. Selena löste das Tuch, das sie um ihren Kopf gebunden hatte und hob die Arme und lachte. »Ist das nicht schön, Mom?« fragte sie mich.
    »Ja«, sagte ich, »das ist es. Und auch du bist immer schön gewesen, Selena. Warum bist du es nicht mehr?« Sie sah mich an, und es war, als hätte sie zwei Gesichter. Das obere war verblüfft und lachte irgendwie weiter aber darunter steckte ein eher zurückhaltender, mißtrauischer Ausdruck. In diesem darunterliegenden Gesicht lag alles, was Joe ihr in diesem Frühjahr und Sommer erzählt hatte, bevor sie begonnen hatte, sich auch von ihm zurückzuziehen. Ich habe keine Freunde, das war es, was dieses darunterliegende Gesicht mir sagte. Bestimmt nicht dich, und ihn auch nicht. Und je länger wir einander ansahen, desto mehr von diesem Gesicht kam zum Vorschein.
    Sie hörte auf zu lachen und wendete sich von mir ab, um übers Wasser zu schauen. Da hatte ich ein ungutes Gefühl, Andy, aber ich konnte ebensowenig zulassen, daß es mich von meiner Absicht abbrachte, wie ich später Vera ihre Gemeinheiten durchgehen lassen konnte, einerlei, wie traurig das alles im Grunde war. Tatsache ist, daß wir manchmal grausam sein müssen, um helfen zu können ungefähr so wie ein Doktor, der einem Kind eine Spritze gibt, obwohl er weiß, daß das Kind weinen und es nicht verstehen wird. Ich schaute in mich hinein und sah, daß ich auf diese Art grausam sein konnte, wenn es sein mußte. Damals ängstigte mich diese Erkenntnis, und sie ängstigt mich noch heute ein bißchen. Es ist beängstigend, zu wissen, daß man so hart sein

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