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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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konnte. Manchmal höre ich es sogar im Traum, nur daß er im Traum herauskommt und wieder hinter mir her ist; doch das ist nicht das, was in Wirklichkeit geschah. Was wirklich geschah, war, daß das Brett, an dem er sich festgekrallt hatte, plötzlich unter seinem Gewicht brach und er runterstürzte. Es geschah so schnell, daß es fast so war, als wäre er überhaupt nicht dagewesen; ganz plötzlich war nichts mehr da als ein undeutliches, graues Viereck aus Holz mit einem ausgefetzten schwarzen Loch in der Mitte und Glühwürmchen, die darüber umherschwirrten.
    Er schrie wieder, als er hinunterstürzte. Es widerhallte von den Wänden des Brunnens. Auch darauf war ich nicht vorbereitet - daß er schrie, wenn er fiel. Dann gab es einen dumpfen Aufprall, und er hörte auf. Hörte abrupt auf. So, wie eine Lampe verlischt, wenn man den Stecker aus der Wand zieht.
    Ich kniete nieder, verschränkte die Arme und wartete, ob da noch etwas kam. Es verging einige Zeit, und ich weiß nicht, wie lange es dauerte, aber das letzte Licht verschwand aus dem Tag. Die totale Finsternis war eingetreten, und es war dunkel wie in der Nacht. Noch immer kam kein Geräusch aus dem Brunnen, aber ein kleiner Windhauch kam von ihm her auf mich zu, und mir war, als könnte ich ihn riechen. Kennt ihr diesen Geruch, den Wasser manchmal hat, das aus einem flachen Brunnen kommt? Es ist ein Geruch wie von Kupfer, feucht und ziemlich widerlich. Das konnte ich riechen, und es bewirkte, daß ich zitterte.
    Ich sah, daß mein Unterrock fast bis auf meinen linken Schuh runterhing. Er war überall zerfetzt. Ich griff in den Halsausschnitt meines Kleides und riß auch den rechten Träger ab. Dann zog ich den Unterrock aus. Ich knüllte ihn zusammen und versuchte rauszufinden, wie ich am besten um die Brunnenabdeckung herumkommen konnte, und dann mußte ich ganz plötzlich wieder an das kleine Mädchen denken, von dem ich euch vorhin schon erzählt habe. Ganz plötzlich sah ich sie so deutlich vor mir wie am hellichten Tag. Sie lag auch auf den Knien und schaute unters Bett, und ich dachte: Sie ist unglücklich, und sie riecht denselben Geruch. Den wie von Münzen und Austern. Nur, daß er nicht aus dem Brunnen kommt; er hat etwas mit ihrem Vater zu tun.
    Und dann, ganz plötzlich, war es, als drehte sie sich zu mir um, Andy - ich glaube, sie sah mich. Ich begriff, weshalb sie so unglücklich war; ihr Vater hatte sich irgendwie an sie rangemacht, und sie versuchte, es zu verheimlichen. Zu alledem war ihr plötzlich bewußt geworden, daß jemand sie ansah, daß eine Frau, Gott weiß wie viele Meilen entfernt, aber trotzdem auf der Bahn der Sonnenfinsternis - eine Frau, die gerade ihren Mann umgebracht hatte -, sie ansah.
    Sie sprach zu mir, nur hörte ich ihre Stimme nicht mit den Ohren; sie kam aus der Mitte meines Kopfes. »Wer bist du?« fragte sie.
    Ich weiß nicht, ob ich ihr geantwortet hätte oder nicht, aber bevor ich Gelegenheit dazu hatte, kam aus dem Brunnen ein langgezogener, bebender Schrei:
    »Doh-lorrrr-isss…«
    Ich hatte das Gefühl, als gefröre das Blut in mir, und ich weiß, daß mein Herz eine Sekunde lang aussetzte, denn als es wieder zu schlagen begann, mußte es mit drei oder vier hastigen Schlägen wieder aufholen. Ich hatte den Unterrock aufgehoben, aber als ich den Schrei hörte, ließen meine Finger los, und er fiel mir aus der Hand und verhakte sich an einem der Brombeersträucher.
    Das ist nur deine Phantasie, die Überstunden macht, Dolores, sagte ich mir. Das kleine Mädchen, das unter dem Bett nach seinen Sachen sucht, und Joe, der auf einmal so schreit - beides hast du dir nur eingebildet. Das eine war eine Halluzination, weil du etwas von der schalen Luft aus dem Brunnen eingeatmet hast, und das andere nicht mehr als dein Schuldbewußtsein. Joe liegt mit eingeschlagenem Schädel auf dem Grund dieses Brunnens. Er ist tot, und er wird weder dir noch den Kindern jemals wieder etwas antun.
    Anfangs glaubte ich das nicht, aber es verging weitere Zeit, und ich hörte nichts mehr außer dem Ruf einer Eule, irgendwo weit weg auf einem Feld. Ich weiß noch, daß ich dachte, es hörte sich so an, als fragte sie, weshalb ihre Schicht heute so früh angefangen hatte. Eine leichte Brise fuhr durch die Brombeersträucher und ließ sie rascheln. Ich schaute rauf zu den Sternen am Taghimmel, dann wieder hinunter auf die Brunnenabdeckung. Sie schien in der Dunkelheit fast zu schweben, und das Loch in der Mitte, durch das er eingebrochen

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