Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
genügend Probleme. Ich mußte mir darüber klar werden, was ich mit ihm machen sollte, das war das Wichtigste, aber ich kam nicht allzu weit damit. So oft ich versuchte, mir eine Lösung einfallen zu lassen, meldete sich diese innere Stimme zu Wort. Das ist nicht fair, schrie diese Stimme, so war es nicht vorgesehen, er sollte gleich tot sein, verdammt nochmal, tot!
    »Hilfe, Doh-lorrrr-iss!« driftete seine Stimme heraus. Sie hörte sich flach und hallend an, als riefe er im Innern einer Höhle. Ich schaltete die Lampe ein und versuchte, runterzuschauen, aber ich konnte es nicht. Das Loch in der Abdeckung lag zu weit in der Mitte, und alles, was ich sah, war das obere Ende des Schachtes - große Granitbrocken, die mit Moos bewachsen waren. Das Moos sah schwarz und giftig aus im Licht der Taschenlampe.
    Joe hatte das Licht gesehen. »Dolores?« rief er herauf. »Um Gottes willen, hilf mir. Ich bin ganz zerschlagen!« 
    Er hörte sich auch zerschlagen an, seine Stimme klang, als redete er durch einen Mund voll Dreck. Ich konnte ihm nicht antworten. Ich hatte das Gefühl, wenn ich mit ihm reden mußte, würde ich bestimmt den Verstand verlieren. Statt dessen legte ich die Taschenlampe hin, streckte die Arme aus, so weit ich konnte, und bekam eines der Bretter zu fassen, durch die er eingebrochen war. Ich zerrte daran, und es brach wie ein fauler Zahn.
    »Dolores!« rief er, als er das hörte. »Oh, Gott. Gott sei Dank!«
    Ich antwortete nicht, sondern brach nur ein weiteres Brett ab und dann noch eines und noch eines. Mittlerweile begann der Tag wieder heller zu werden, die Vögel zwitscherten wie im Sommer, wenn die Sonne aufgeht. Die Sterne waren wieder verschwunden, nur die Glühwürmchen schwirrten noch herum. Ich machte weiter mit dem Abbrechen der Bretter und arbeitete mich auf der Seite des Brunnens vor, an der ich kniete.
    »Dolores!« kam seine Stimme herauf. »Du kannst das Geld haben! Das ganze Geld! Und ich werde Selena nie wieder anrühren, das schwöre ich bei Gott und allen Engeln! Bitte, Liebling, hilf mir nur, aus diesem Loch rauszukommen!«
    Ich kam zum letzten Brett - ich mußte es aus den Brombeerranken raushebeln, um es zu lockern - und warf es hinter mich. Dann leuchtete ich mit der Lampe in den Brunnen.
    Das erste, worauf der Lichtstrahl traf, war sein nach oben gewendetes Gesicht, und ich schrie auf. Es war eine kleine weiße Scheibe mit zwei großen schwarzen Löchern darin. Ein oder zwei Sekunden lang glaubte ich, er hätte Steine in seine Augen gesteckt. Dann blinzelte er, und es waren nur noch seine Augen, die zu mir raufstarrten. Dann dachte ich daran, was er gesehen haben mußte nichts als den dunklen Umriß eines Frauenkopfes hinter einem hellen Lichtkreis.
    Er lag auf den Knien, und sein Kinn und sein Hals und die Vorderseite seines Hemdes waren voller Blut. Als er den Mund öffnete und meinen Namen rief, strömte noch mehr Blut heraus. Er hatte sich fast sämtliche Rippen gebrochen, als er stürzte, und sie müssen sich in seine Lungen gebohrt haben wie die Borsten eines Stachelschweins.
    Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich hockte irgendwie da, fühlte, wie die Wärme in den Tag zurückkehrte, spürte sie in meinem Genick und auf meinen Armen und Beinen, und richtete das Licht auf ihn. Dann hob er die Arme und schwenkte sie, als wäre er am Ertrinken; ich konnte es nicht aushaken. Ich schaltete das Licht aus und wich zurück. Ich saß zusammengekauert am Rande des Brunnens, hielt mir die blutigen Knie und zitterte. 
    »Bitte!« rief er herauf. »Bitte!« und »Biiitte!« und schließlich »Biiiiiiiiitte, Doh-lorrrr-issss!«
    Oh, es war grauenhaft, grauenhafter, als sich irgend jemand vorstellen kann, und so ging es lange Zeit weiter. Es ging so lange weiter, daß ich glaubte, ich würde wahnsinnig. Die Finsternis ging zu Erde, die Vögel hörten auf mit ihrem Guten-Morgen-Gesang und die Glühwürmchen hörten auf rumzuschwirren (vielleicht konnte ich sie auch einfach nicht mehr sehen); ich hörte, wie sich draußen auf dem Wasser die Boote gegenseitig zututeten und er gab immer noch nicht auf. Manchmal bettelte er und nannte mich Liebling; er versicherte mir, was er alles tun würde, wenn ich ihn herausließe, daß er sich ändern würde, daß er uns ein neues Haus bauen und mir den Buick kaufen würde, den ich mir immer gewünscht hatte. Dann verfluchte er mich und sagte mir, daß er mich an der Wand festbinden und mir ein heißes Schüreisen reinstekken und zusehen würde,

Weitere Kostenlose Bücher