Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
konnte spüren, wie mein Unterrock an der Seite, an der der Träger gerissen war, runterrutschte. Und wegen der Dunkelheit und dem großen blauen Fleck, der da vor mir hing, sah es so aus, als wäre alles aus dem Gleichgewicht und am falschen Ort. Das Ende des Schuppens war nichts als eine schwarze Form, als hätte jemand eine Schere genommen und ein Loch in den Himmel geschnitten.
    Er stieß mich auf den Rand des Brombeergestrüpps zu, und als mir der erste Dorn in die Wade stach, fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, meine Jeans anzuziehen. Daraufhin fragte ich mich, was ich womöglich sonst noch vergessen hatte, aber natürlich war es inzwischen zu spät, um noch irgendwas zu ändern. Im letzten Rest des Lichtes konnte ich das Taschentuch flattern sehen und hatte gerade noch Zeit, mich zu erinnern, daß die Brunnenabdekkung genau darunter lag. Dann riß ich mich von ihm los und stürmte in das Gestrüpp.
    »Du verdammtes Miststück, ich kriege dich noch!« schrie er hinter mir her, und ich konnte hören, wie die Sträucher brachen, als er hinter mir hertrampelte. Ich spürte, wie seine Hand wieder nach meinem Kragen griff und ihn beinahe zu fassen bekam. Ich riß mich los und stürmte weiter. Das war schwierig, weil mein Unterrock immer weiter runterrutschte und sich an den Dornen verhakte. Schließlich rissen sie einen langen Streifen davon ab und außerdem eine Menge Fleisch von meinen Beinen. Ich blutete von den Knien bis zu den Knöcheln, aber das bemerkte ich erst, als ich wieder im Haus war, und das war viel später.
    »Komm wieder her!« brüllte er, und diesmal fühlte ich seine Hand auf meinem Arm. Ich riß mich los, und daraufhin ergriff er meinen Unterrock, der inzwischen wie eine Brautschleppe hinter mir herflatterte. Wenn er gehalten hätte, dann hätte Joe mich vielleicht wie einen großen Fisch an Land gezogen, aber er war alt und morsch von zwei- oder dreihundert Wäschen. Ich spürte, wie der Streifen, den er erwischt hatte, riß, und ich hörte ihn fluchen, schrill und außer Atem. Ich hörte, wie die Brombeersträucher knickten und brachen und durch die Luft peitschten, konnte aber fast nichts sehen; sobald wir in dem Brombeergestrüpp waren, war es dunkler als im Arsch eines Waldmurmeltiers, und das Taschentuch, das ich angebunden hatte, war auch keine Hilfe. Statt dessen sah ich die Kante der Brunnenabdeckung - nicht mehr als ein weißlicher Schimmer in der Dunkelheit vor mir -, und ich sprang aus Leibeskräften. Ich schaffte es gerade eben darüber hinweg, und weil ich ihm den Rücken zukehrte, sah ich nicht, wie er darauf trat. Es gab ein lautes, knakkendes Geräusch, und dann brüllte er…
    Nein, das stimmt nicht.
    Er brüllte nicht, und das wißt ihr vermutlich ebenso gut wie ich. Er quiekte wie ein Kaninchen, das mit einem Fuß in eine Falle geraten ist. Ich drehte mich um und sah ein großes Loch in der Mitte der Abdeckung. Joes Kopf ragte daraus hervor, und er hielt sich mit aller Kraft an einem der splittrigen Bretter fest. Seine Hände bluteten, und von seinem Mundwinkel lief ein kleiner Blutfaden herunter auf sein Kinn. Seine Augen waren so groß wie Türknäufe. »Großer Gott, Dolores!« sagte er. »Es ist der alte Brunnen. Schnell, hilf mir raus, bevor ich ganz reinfalle.« Ich stand einfach da, und nach ein paar Sekunden veränderten sich seine Augen. Ich sah, wie das Begreifen in ihnen auftauchte. Ich habe nie so viel Angst ausgestanden wie damals, als ich an der anderen Seite der Abdeckung stand und ihn anstarrte, während über uns diese schwarze Sonne am Himmel hing. Ich hatte meine Jeans vergessen, und er war nicht richtig reingefallen, wie es hätte sein sollen. Mir kam es vor, als wäre so ziemlich alles schiefgegangen.
    »Oh«, sagte er. »Oh, du Miststück.« Dann fing er an, sich nach oben zu krallen und zu winden.
    Ich sagte mir, daß ich davonlaufen mußte, aber meine Beine wollten nicht. Und wo hätte ich auch hinlaufen können, wenn er herauskam? Eins habe ich am Tag der Sonnenfinsternis begriffen: wenn man auf einer Insel lebt und versucht, jemanden umzubringen, dann sollte man gute Arbeit leisten. Denn wenn man es nicht tut, kann man nirgendwo hinlaufen und sich verstecken.
    Ich konnte hören, wie seine Fingernägel in dem alten Brett Splitter losrissen, als er versuchte, sich Hand über Hand hochzuarbeiten. Dieses Geräusch ist so etwas wie das, was ich sah, als ich zu der Finsternis hinaufschaute etwas, das mir immer sehr viel näher war, als mir lieb sein

Weitere Kostenlose Bücher