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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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war, kam mir vor wie ein Auge. Der zwanzigste Juli 1963 war der Tag, an dem ich überall Augen sah.
    Dann kam wieder seine Stimme aus dem Brunnen. »Hilf mir, Doh-lorrrrr-isss…«
    Ich stöhnte und schlug die Hände vors Gesicht. Es war sinnlos, mir einreden zu wollen, daß das nur meine Phantasie war oder mein Schuldbewußtsein oder irgendwas sonst; es war Joe. Und es hörte sich an, als weinte er.
    »Bitte - hilf mir - BITTE…« jammerte er.
    Ich suchte mir stolpernd meinen Weg um die Brunnenabdeckung herum und rannte auf dem Pfad entlang, den wir durch die Sträucher gebahnt hatten. Ich war nicht in Panik, nicht wirklich, und ich kann euch sagen, wieso ich das wußte; ich hielt lange genug an, um die Reflektorbox aufzuheben, die ich in der Hand gehabt hatte, als wir uns auf den Weg zu dem Brombeergestrüpp machten. Ich konnte mich nicht erinnern, daß ich sie hatte fallen lassen, aber als ich sie auf dem Boden vor mir sah, nahm ich sie an mich. Was wahrscheinlich nur gut war, wenn man bedenkt, wie die Dinge mit diesem verdammten Dr. McAuliffe liefen - aber das ist noch ein oder zwei Abzweigungen von der Stelle entfernt, an der ich jetzt bin. Ich blieb stehen und nahm sie an mich, das ist das Entscheidende, und es beweist mir, daß ich meine fünf Sinne noch beieinander hatte. Aber ich konnte spüren, wie die Panik versuchte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, ungefähr wie eine Katze, die versucht, mit der Pfote eine Schachtel unzukippen, wenn sie hungrig ist und etwas Freßbares darin riecht.
    Ich dachte an Selena, und das half mir, der Panik zu entkommen. Ich konnte mir vorstellen, wie sie zusammen mit Tanya und vierzig oder fünfzig Kindern am Ufer des Lake Winthrop stand, alle mit einer eigenen Reflektorbox, die sie in der Bastelwerkstatt des Camps gebaut hatten, und die Mädchen zeigten ihnen, wie sie damit die Finsternis beobachten konnten. Das Bild war nicht so klar wie die Vision, die ich draußen beim Brunnen gehabt hatte, die von dem kleinen Mädchen, das unter dem Bett nach seinen Shorts und seiner Bluse gesucht hatte, aber es war klar genug, daß ich hören konnte, wie Selena mit ihrer ruhigen und freundlichen Stimme mit den Kleinen redete und diejenigen beruhigte, die sich fürchteten. Daran dachte ich und auch daran, daß ich für sie und ihre Brüder da sein mußte, wenn sie zurückkamen - was vermutlich nicht der Fall sein würde, wenn ich der Panik Raum gab. Ich war zu weit gegangen und hatte zu viel getan, und außer mir selbst gab es niemanden, auf den ich zählen konnte.
    Ich ging in den Schuppen und fand Joes große Taschenlampe auf seinem Arbeitstisch. Ich schaltete sie ein, aber nichts passierte; er hatte die Batterien leerlaufen lassen, was ihm ähnlich sah. Aber ich hatte immer dafür gesorgt, daß in der untersten Schublade seines Tisches neue lagen, weil im Winter so oft der Strom ausfällt. Ich holte sechs davon heraus und versuchte, sie einzusetzen. Meine Hände zitterten so heftig, daß die Batterien beim ersten Versuch runterfielen und über den Boden rollten und ich sie wieder zusammensuchen mußte. Beim zweiten Mal schaffte ich es, sie einzulegen, aber ich muß in der Eile eine oder zwei verkehrtrum reingesteckt haben; das Licht wollte immer noch nicht angehen. Ich dachte daran, es einfach zu lassen; schließlich würde es nicht mehr allzu lange dauern, bis die Sonne wieder rauskam. Aber auf dem Grund des Brunnens würde es dunkel sein, auch nachdem sie wieder rausgekommen war, und außerdem war da eine Stimme in mir, die mir sagte, ich könnte mir alle Zeit der Welt lassen - wenn ich lange genug dazu brauchte, würde ich vielleicht feststellen, daß er endlich den Geist aufgegeben hatte, wenn ich wieder rausging.
    Schließlich funktionierte die Lampe. Sie lieferte ein helles Licht, und das half mir, den Weg zum Brunnen zu finden, ohne mir die Beine noch schlimmer zu zerkratzen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wieviel Zeit vergangen war, aber am Himmel standen immer noch Sterne; also nehme ich an, daß es noch vor sechs war und die Sonne nach wie vor zum größten Teil verdeckt.
    Daß er nicht tot war, wußte ich, noch bevor ich den halben Weg hinter mich gebracht hatte - ich hörte, wie er stöhnte und meinen Namen rief und mich anflehte, ihm rauszuhelfen. Ich weiß nicht, ob die Jolanders oder die Langills oder die Carons ihn gehört hätten, wenn sie zu Hause gewesen wären, oder nicht. Aber ich dachte nicht daran, mir deshalb den Kopf zu zerbrechen; ich hatte auch so

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