Dom Casmurro
hatte. Ich wiederhole, die Seele ist voller Geheimnisse.
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Mein Gott, hast du mich erschreckt!
Als Pádua das Wohnzimmer betrat, beugte sich Capitu, die mit dem Rücken zu mir stand, über ihre Näharbeit, als wollte sie sie aufnehmen, und fragte mit lauter Stimme: «Aber Bentinho, was ist ein Apostolischer Protonotar?»
«Hallo zusammen!», rief der Vater aus.
«Mein Gott, hast du mich erschreckt!»
Nun haben wir wieder die gleiche Situation wie am Vormittag. Wenn ich heute, vierzig Jahre später, diese beiden Situationen so ausführlich schildere, dann deswegen, um zu zeigen, dass Capitu sich nicht nur bei ihrer Mutter sofort unter Kontrolle brachte, auch der Vater flößte ihr nicht mehr Angst ein. In einer Lage, in der es mir die Sprache verschlug, fand sie mit der größten Unbefangenheit der Welt die richtigen Worte. Ich bin überzeugt davon, dass ihr Herz weder schneller noch langsamer schlug. Zwar gab sie vor, sich erschrocken zu haben, und machte auch ein leicht verängstigtes Gesicht, doch ich, der ich alles wusste, sah, dass es gespielt war, und wurde neidisch. Ihr Vater gab mir die Hand und erkundigte sich, warum die Tochter nach dem Apostolischen Protonotar gefragt habe. Capitu wiederholte, was sie von mir gehört hatte, und schlug dem Vater sogleich vor, er solle den Pfarrer in dessen Haus beglückwünschen, während sie dies bei uns tun wolle. Dann packte sie ihr Nähzeug zusammen, verschwand im Flur und rief mit kindlicher Stimme: «Mama, Abendessen, Papa ist da!»
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Die Berufung
Pater Cabral befand sich noch in jener ersten Phase der Würdigungen, in der einem die kleinste Gratulation so viel bedeutet wie eine lange Lobrede. Irgendwann kommt die Zeit, da die Geehrten die Lobeshymnen mit unbewegten Gesichtern und ohne jeden Dank entgegennehmen, wie einen ihnen zustehenden Tribut. Die Erregung der ersten Stunde ist besser; der Seelenzustand, der im Neigen eines vom Wind bewegten Busches einen Glückwunsch der ganzen Flora sieht, bringt viel tiefere und erhabenere Gefühle hervor als jeder andere. Cabral lauschte Capitus Worten mit großem Wohlgefallen.
«Danke, Capitu, vielen Dank, es ist schön, dass du dich auch für mich freust. Geht es deinem Papa gut? Und der Mama? Dich selbst frage ich gar nicht erst; dein Gesicht sieht aus, als wolltest du Gesundheit verkaufen. Und betest du auch immer schön?»
Capitu antwortete auf alle Fragen prompt und angemessen. Sie trug ein besseres Kleid und ihre Sonntagsschuhe. Auch war sie nicht mit der üblichen Selbstverständlichkeit eingetreten, sondern hatte einen Augenblick an der Tür zum Wohnzimmer verharrt, ehe sie meiner Mutter und dem Pater die Hand küsste. Da sie diesen dann innerhalb von fünf Minuten zweimal mit dem Titel Protonotar ansprach, hielt José Dias einen kleinen Vortrag über das väterliche und erhabene Herz Papst Pius’ IX., um die Konkurrenz auszustechen.
«Sie sind ein großer Redner», sagte Onkel Cosme, als er geendet hatte.
José Dias lächelte ungeniert. Pater Cabral bekräftigte das Lob auf den Hausfreund, wenngleich nicht mit dessen Superlativen, worauf José Dias noch hinzufügte, Kardinal Mastai 34 sei offensichtlich von Anfang an für die Tiara bestimmt gewesen. Und schließlich fügte er mit einem an mich gerichteten Augenzwinkern hinzu: «Die Bestimmung ist alles. Die geistliche Laufbahn ist das Beste, was es gibt, solange sie dem Priester in die Wiege gelegt wird. Besteht diese Berufung, diese wirkliche, echte Berufung nicht, kann ein junger Mensch ebenso gut Geisteswissenschaften studieren, denn sie sind gleichermaßen nützlich und ehrenwert.»
Pater Cabral erwiderte: «Die Berufung ist wichtig, aber Gottes Wille ist allmächtig. Ein Mensch kann die Kirche ablehnen und sie sogar verfolgen, und dann hört er eines Tages die Stimme Gottes und wird zum Apostel, denken Sie nur an Paulus.»
«Das bestreite ich nicht, aber ich will auf etwas anderes hinaus. Nämlich, dass man Gott genauso gut dienen kann, ohne Priester zu werden. Habe ich nicht recht?»
«Das kann man.»
«Na also», rief José Dias triumphierend aus und blickte in die Runde. «Ohne innere Berufung wird man kein guter Priester, aber in jedem freien Beruf können wir Gott so dienen, wie es sich für uns alle geziemt.»
«Vollkommen richtig, aber es ist nicht so, dass einem die Berufung nur in die Wiege gelegt wird.»
«Aber das ist die bessere, mein lieber Herr Pfarrer.»
«Ein junger Mann, der keinerlei Neigung zum geistlichen Leben
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