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Dom Casmurro

Dom Casmurro

Titel: Dom Casmurro Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joaquim Maria Machado de Assis
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Lippen. Vielleicht übertreibe ich die Erinnerung an den Kuss ein wenig; doch genau das heißt Sehnsucht: das ständige Aufrufen alter Erinnerungen. Nun, von allen Erinnerungen, die ich an diese Zeit habe, ist das wohl die süßeste, frischeste und einschneidendste, eine Erinnerung, die mir mich selbst enthüllte. Es gibt noch viele andere, großartige und gleichermaßen süße Erinnerungen, ebenso wie solche an intellektuelle Höhepunkte, die auch eine starke Wirkung hatten. Doch obwohl ich ein so bedeutender Mann war, waren jene Erinnerungen doch weniger wert als diese.
    35
    Der Apostolische Protonotar
    Schließlich nahm ich meine Bücher und rannte zum Unterricht. Eigentlich rannte ich nicht wirklich, denn auf halbem Wege blieb ich stehen, weil mir bewusst wurde, dass es bestimmt schon sehr spät war und man mir vielleicht irgendetwas ansah. Ich überlegte zu lügen, einen Schwindel vorzuschützen, der mich zu Fall gebracht habe, verwarf den Gedanken jedoch wieder, weil es meiner Mutter nur einen Schrecken einjagen würde. Ich dachte daran, eine Reihe von Vaterunsern zu geloben, aber es stand ja sowieso noch ein Versprechen und eine Gunst des Himmels au s … Nein, lieber wartete ich ab. Ich lief also weiter und hörte fröhliche Stimmen und eine lautstarke Unterhaltung. Als ich das Wohnzimmer betrat, schimpfte keiner mit mir.
    Pater Cabral war am Vortag zum Internuntius bestellt worden und hatte von diesem erfahren, dass er per päpstlichem Erlass zum Apostolischen Protonotar ernannt worden war. Diese Auszeichnung durch den Papst war für ihn und für uns alle ein Anlass zu großer Freude. Onkel Cosme und Base Justina wiederholten den Titel voll Bewunderung; es war das erste Mal, dass wir ihn vernahmen. Wir kannten zwar Domherren, Monsignori, Bischöfe, Nuntii und Internuntii, aber was war ein Apostolischer Protonotar? Pater Cabral erklärte, dass es sich bei diesem Titel nicht um ein echtes Amt der Kurie handelte, er aber dieselben Ehren beinhaltete. Onkel Cosme sah sich in seinem Kartenfreund selbst geehrt und wiederholte: «Apostolischer Protonotar!»
    Dann wandte er sich an mich: «Stell dich gleich darauf ein, Bentinho; du kannst auch mal Apostolischer Protonotar werden.»
    Pater Cabral gefiel die häufige Wiederholung seines Titels. Er hatte sich nicht gesetzt, sondern lief auf und ab und trommelte auf dem Deckel seiner Schnupftabakdose herum. Die Länge des Titels verstärkte noch seinen Glanz, wenngleich er eindeutig zu lang war, um ihn mit dem Namen zu verbinden. Diese zweite Überlegung stammte von Onkel Cosme. Pater Cabral warf ein, dass es nicht nötig sei, alles zu sagen, es genüge, wenn sie ihn Protonotar Cabral nennen würden. Das «apostolisch» verstehe sich dann von selbst.
    «Protonotar Cabral.»
    «Ja, Sie haben recht; Protonotar Cabral.»
    «Aber, Herr Protonotar», warf Base Justina ein, um sich an die Verwendung des Titels zu gewöhnen, «sind Sie jetzt nicht verpflichtet, nach Rom zu gehen?»
    «Nein, Dona Justina.»
    «Nein, es sind doch nur die Ehren», bemerkte meine Mutter.
    «Aber das soll nicht heißen», sagte Cabral, der noch einmal nachgedacht hatte, «das soll nicht heißen, dass zu bestimmten, offizielleren Anlässen, bei öffentlichen Amtshandlungen, in feierlichen Briefen etc. nicht doch der ganze Titel verwendet wird: Apostolischer Protonotar. Für den allgemeinen Sprachgebrauch reicht Protonotar.»
    «Ganz recht», stimmten alle zu.
    José Dias, der kurz nach mir eingetreten war, beglückwünschte Pater Cabral zu seiner Auszeichnung und erinnerte bei der Gelegenheit an die ersten politischen Handlungen Pius’ IX., die in Italien große Hoffnungen geweckt hatten. Doch niemand ging darauf ein, der wichtigste Mann der Stunde war mein alter Lateinlehrer. Ich, der ich langsam meine Besorgnis ablegte, begriff, dass ich ihm ebenfalls gratulieren müsste, und meine Glückwünsche gingen ihm nicht weniger zu Herzen als die der anderen. Er klopfte mir väterlich auf die Wange und gab mir schließlich frei. So viel Glück in einer einzigen Stunde. Ein Kuss und kein Unterricht! Ich glaube, genau das verriet mein Gesicht, denn Onkel Cosme nannte mich bauchwackelnd einen Faulenzer, und José Dias tadelte sogleich meine Begeisterung: «Man sollte das Nichtstun nicht feiern, denn das Latein wirst du immer gebrauchen können, selbst wenn du nicht Priester wirst.»
    Ich kannte meinen José Dias. Es war das erste Wort, das Saatkorn, ganz nebenbei auf die Erde geworfen, um die Ohren der

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