Dom Casmurro
wobei der Himmel am zweiten und die Erde am dritten Tag geschaffen wurde. Wie Abraham führte auch meine Mutter ihren Sohn mit dem Holz für das Brandopfer, dem Feuer und dem Messer zu dem Berg der Visionen. Sie legte mich wie Isaak auf den Altar aus Holz, nahm das Messer und erhob es. Doch als sie gerade zustechen wollte, hörte sie die Stimme des Engels, der ihr im Namen des Herrn befahl: «Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts, denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest.» 55 Dies muss die geheime Hoffnung meiner Mutter gewesen sein.
Der Engel aus der Heiligen Schrift war natürlich Capitu. Meine Mutter wollte sie jetzt in der Tat ständig um sich haben. Die wachsende Zuneigung zeigte sich auf vielfältige Weise. Capitu wurde für meine Mutter zur Blume unseres Hauses, zur Morgensonne, zur Kühle des Abends, zum Mond der Nächte. Sie verbrachte zahlreiche Stunden mit meiner Mutter, zuhörend, erzählend, singend. Meine Mutter erkundete ihr Herz, prüfte ihre Augen, und zwischen ihnen stand, wie die Losung für ein künftiges Leben, mein Name.
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Ein Wort
Nachdem ich nun erzählt habe, was mir erst später bewusst wurde, werden auch folgende Sätze meiner Mutter verständlich, ausgesprochen an jenem Samstag, an dem ich nach Hause kam und erfuhr, dass Capitu in der Rua dos Inválidos bei Fräulein Gurgel sei: «Warum gehst du sie nicht besuchen? Hast du mir nicht gesagt, Sanchas Vater hätte dich eingeladen?»
«Ja, das hat er.»
«Warum gehst du dann nicht hin, wenn du das möchtest? Capitu wollte eigentlich heute wiederkommen, um eine Handarbeit mit mir zu beenden. Gewiss hat ihre Freundin sie gebeten, dort zu übernachten.»
«Vielleicht turteln sie», mutmaßte Base Justina.
Ich brachte sie nur deshalb nicht um, weil ich weder Strick noch Pistole oder Dolch zur Hand hatte. Könnten Blicke jedoch töten, hätte der meine mir diesen Dienst erwiesen. Einer der Fehler des Schicksals war, dass es dem Menschen lediglich Arme und Zähne als Angriffswaffen sowie Beine zur Flucht und Verteidigung mitgab. Die Augen könnten dem ersten Zweck ebenfalls dienen. Eine einfache Augenbewegung würde einen Feind oder Rivalen zu Fall bringen oder blitzschnelle Rache ausführen. Hinzu käme, dass das Gericht getäuscht werden könnte, wenn ebendiese mörderischen Augen das Opfer mitleidig beweinten. Base Justina entkam den meinen, aber ich entkam nicht der Wirkung ihrer Mutmaßung, und so eilte ich am Sonntag um elf Uhr in die Rua dos Inválidos.
Sanchas Vater empfing mich niedergeschlagen und traurig. Seine Tochter war krank. Am Vortag habe sie Fieber bekommen, das sich nun zunehmend verschlimmere. Da er seine Tochter sehr liebte, hatte er bereits ihren Tod vor Augen und erklärte mir, dass er sich in diesem Fall ebenfalls umbringen werde. So haben wir hier also ein Kapitel, das finster ist wie der Friedhof und der Tod, wie Selbstmord und Mord. Ich sehnte mich nach einem Sonnenstrahl und ein wenig blauem Himmel. Es war Capitu, die mir beides brachte, als sie an der Wohnzimmertür auftauchte und Sanchas Vater mitteilte, dass seine Tochter ihn sehen wolle.
«Geht es ihr schlechter?», fragte Gurgel erschrocken.
«Nein, nein, sie möchte Sie nur sprechen.»
«Bleib ein wenig hier», sagte er zu Capitu, und an mich gewandt: «Sie ist unsere Krankenschwester, weil Sancha keine andere möchte. Ich bin gleich wieder da.»
Capitu wirkte etwas müde und aufgewühlt, doch kaum dass sie mich sah, war sie wie ausgewechselt und wurde wieder zu dem fröhlichen, lebendigen Mädchen, das ich kannte. Sie zeigte sich ziemlich überrascht: Es fiel ihr schwer zu glauben, dass ich es wirklich war. Sie redete auf mich ein, wollte, dass ich ihr berichtete, und so unterhielten wir uns ein paar Minuten lang, indes leise und gedämpft, sodass nicht einmal die Wände uns hörten, obwohl sie doch angeblich Ohren haben. Aber falls sie doch etwas hörten, verstanden sie es nicht, weder sie noch die Möbel, die ebenso traurig waren wie der Hausherr.
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Das Canapé
Von den Möbeln erfasste offensichtlich nur das Canapé unsere emotionale Lage, denn es bot uns mit solchem Nachdruck die Dienste seiner Polster an, dass wir sie annahmen und uns setzten. Daher rührt im Übrigen meine besondere Meinung über die Canapés. Sie verbinden Intimität mit Anstand und zeigen einem das ganze Haus, ohne dass man dazu das Wohnzimmer verlassen müsste. Sitzen zwei Männer darauf, diskutieren sie vielleicht das Schicksal eines Reiches, zwei
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