Dom Casmurro
später zu Hause war. Im Korridor blieb ich stehen, atmete tief durch und versuchte, den blassen, entstellten Toten zu vergessen, den ich hier nicht näher beschrieben habe, damit diese Seiten nicht zu abstoßend werden. Doch du kannst ihn dir sicher vorstellen, lieber Leser. In wenigen Sekunden hatte ich alles aus meinem Gedächtnis gelöscht; ich brauchte nur an das andere Haus zu denken, an das Leben und an Capitus frisches, lebhaftes Gesich t … Liebt, ihr jungen Männer! Liebt vor allem schöne und anmutige Mädchen, denn sie lindern das Übel, heilen die Wunden und verwandeln den Tod in Lebe n … Liebt, ihr jungen Männer!
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Die Chaise
Als ich auf der letzten Treppenstufe angelangt war, hatte ich eine Idee. Sie kam mir so plötzlich, als hätte sie dort zwischen den Gitterstäben des Tores auf mich gewartet. In meinem Kopf hallten noch immer die Worte von Manducas Vater nach, mit denen er mich gebeten hatte, am nächsten Tag zur Beerdigung zu komme n … Ich hielt inne und überlegte einen Augenblick. Ja, eigentlich könnte ich zu der Beerdigung gehen. Ich würde meine Mutter bitten, eine Kutsche zu miete n …
Denkt nicht, es wäre mir nur darum gegangen, mit der Kutsche zu fahren, so sehr ich das auch liebte. Ich erinnere mich noch gut, dass ich als kleiner Junge mit meiner Mutter oftmals in der Kutsche zu Freunden oder zu offiziellen Besuchen oder, wenn es regnete, auch zum Gottesdienst fuhr. Es war eine alte Chaise meines Vaters, die sie nach besten Kräften instand hielt. Der Kutscher, einer unserer Sklaven, war so alt wie die Chaise selbst, und jedes Mal, wenn er mich fertig angekleidet an der Tür auf meine Mutter warten sah, sagte er lachend: «Papa João wird Nhonhô 56 fahren!»
Und fast immer bat ich ihn: «João, halte die Tiere zurück, fahr ganz langsam.»
«Das gefällt aber Nhá 57 Glória nicht!»
«Halte sie trotzdem zurück!»
Der Grund war natürlich, dass ich die Kutschfahrt länger genießen wollte, und nicht etwa aus Eitelkeit, denn von außen konnte man die Insassen nicht einmal sehen. Es war eine völlig altmodische und überholte zweirädrige Kutsche, schmal und kurz und vorne mit zwei Ledervorhängen, die man zum Ein- und Aussteigen beiseiteschieben konnte. In jedem dieser Vorhänge befand sich ein Guckloch, durch das ich immer hinausspähte.
«Setz dich, Bentinho!»
«Lass mich doch rausschauen, Mama!»
Und so stand ich, als ich noch kleiner war, in der Chaise, das Gesicht gegen das gläserne Guckloch gepresst, und beobachtete den Kutscher, der mit seinen hohen Stiefeln breitbeinig auf dem linken Maultier saß und die Zügel des anderen Tiers sowie eine lange, dicke Peitsche in seinen Händen hielt. Alles war unbequem, die Stiefel, die Peitsche und die Maultiere, aber ihm gefiel es, und mir auch. Rechts und links sah ich die Häuser vorüberziehen, manchmal auch Geschäfte, die geöffnet oder geschlossen waren, mit Leuten darin und ohne; ich sah die Menschen, die hin und her liefen oder vor der Kutsche die Straße überquerten, mit großen Schritten oder mit kleinen trippelnden. Wenn Menschen oder Tiere den Weg versperrten, hielt die Chaise an, und dieses Schauspiel war besonders interessant: Die Menschen, die auf den Bürgersteigen oder an den Hauseingängen herumstanden, betrachteten die Kutsche und fragten sich natürlich, wer darin säße. Als ich bereits etwas älter war, stellte ich mir vor, sie würden es erraten und sagen: «Das ist doch diese Dame aus der Rua de Matacavalos mit ihrem Sohn, Bentinh o …»
Die Chaise passte so gut zu dem zurückgezogenen Leben meiner Mutter, dass wir sie immer noch benutzten, als es in unserem Viertel schon längst keine solchen Fahrzeuge mehr gab. So wurde sie in unserer Straße und Nachbarschaft bekannt als die «alte Chaise». Am Ende gab meine Mutter sie dann doch auf, verkaufte sie aber nicht sofort. Sie verzichtete nur auf sie, weil die hohen Kosten für die Remise sie dazu zwangen. Der Grund, sie auch ohne praktische Verwendung zu behalten, war ein rein sentimentaler: Sie stellte eine Erinnerung an ihren Mann dar. Alles, was von meinem Vater stammte, wurde aufbewahrt, als wäre es ein Teil seiner selbst, ein Überrest dieses Menschen und seiner reinen, unbescholtenen Seele. Doch meine Mutter behielt die Chaise auch deshalb, weil sie eine Schwäche für Altes hatte, wie sie ihren Freunden gestand. Sie liebte die alten Gebräuche, die alten Sitten, die alten Ideen und alten Moden. Deshalb besaß sie ihr eigenes
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