Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dom Casmurro

Dom Casmurro

Titel: Dom Casmurro Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joaquim Maria Machado de Assis
Vom Netzwerk:
ihn sehen? Kommen Sie herein, sehen Sie ihn sich a n …»
    Es fällt mir schwer, dies niederzuschreiben, aber lieber sündige ich durch ein Zuviel als durch ein Zuwenig. Ich wollte ihm eine abschlägige Antwort erteilen, ihm sagen, dass ich Manduca nicht anschauen wolle, und ich machte sogar Anstalten zu flüchten. Nicht, weil ich Angst hatte. An einem anderen Tag wäre ich vielleicht sogar bereitwillig und neugierig eingetreten, aber heute war ich doch so glücklich! Einen Toten ansehen, wenn man gerade von seiner Liebsten komm t … Es gibt Dinge, die lassen sich einfach nicht vereinbaren. Allein die Todesnachricht brachte mich schon durcheinander. All meine goldenen Gedanken verloren ihre Farbe und ihren metallenen Glanz und wandelten sich in dunkle, hässliche Asche. Ich sagte wohl noch, dass ich in Eile sei, doch gewiss nicht in klaren und vielleicht nicht einmal in menschlichen Worten, denn der Mann trat mit einer ausladenden Geste zur Seite, und ich, der ich weder den Mut zu flüchten noch einzutreten hatte, überließ mich einfach meinem Körper, und der trat ein.
    Den Mann trifft keine Schuld. Für ihn war in diesem Augenblick der Sohn das Wichtigste. Aber auch mir dürft ihr nicht die Schuld geben, denn für mich gab es nichts Wichtigeres als Capitu. Das Übel lag darin, dass diese beiden Dinge an einem Nachmittag zusammentrafen und der Tod des einen seine Nase in das Leben des anderen steckte. Das war das einzige Übel. Wäre ich vorher oder hinterher vorbeigekommen oder hätte Manduca mit dem Sterben ein paar Stunden gewartet, hätte kein Misston meine Herzensmelodie gestört. Warum war er ausgerechnet vor einer halben Stunde gestorben? Doch dem Tod ist jede Stunde recht. Man stirbt genauso gut um sechs Uhr wie um sieben Uhr abends.
    85
    Der Verstorbene
    Mit diesen wirren Gedanken betrat ich das Keramikgeschäft. Der Laden war dunkel, und in die dahinter befindliche Wohnung drang noch weniger Licht, da die Fensterläden zum Hof geschlossen waren. In einer Ecke des Esszimmers sah ich die weinende Mutter, an der Tür zum Schlafzimmer zwei Kinder, die, den Daumen im Mund, verschreckt dort hineinstarrten. Der Leichnam lag auf dem Bett. Das Bet t …
    Lassen wir die Feder einen Augenblick ruhen und treten wir ans Fenster, damit die Erinnerung sich etwas erholen kann. Das Bild war wirklich hässlich, zum einen wegen des Todes an sich, zum anderen wegen des Verstorbenen, der grässlich aussa h … Da ist das hier doch etwas ganz anderes. Alles, was ich dort draußen sehe, atmet Leben, die Ziege, die neben einem Pferdewagen wiederkäut, die Henne, die auf der Straße herumpickt, der Vorortzug, der schnaubend, pfeifend und dampfend vorbeifährt, die Palme, die in den Himmel ragt, und schließlich auch der Kirchturm, obgleich er weder aus Fleisch noch aus Blättern beschaffen ist. Der Junge, der dort in der Gasse einen Drachen steigen lässt, ist nicht tot und wird auch nicht sterben, selbst wenn er ebenfalls Manduca heißt.
    Der andere Manduca war zwar ein wenig älter als dieser hier. Er mochte achtzehn oder neunzehn gewesen sein, hätte aber ebenso gut fünfzehn oder zweiundzwanzig sein können, war doch aus seinem Gesicht kein Alter abzulesen, denn es lag verborgen unter den Wülsten de r … Wohlan, es muss gesagt werden! Er ist tot, seine nächsten Verwandten sind tot, und falls doch noch einer lebt, dann höchstens ein ganz entfernter, der sich nicht daran stört. Es muss gesagt werden: Manduca litt an einer grausamen Krankheit, nämlich der Lepra. Bereits zu Lebzeiten war er hässlich, doch als Toter wirkte er auf mich furchterregend. Als ich den traurigen Leichnam meines Nachbarn dort auf dem Bett liegen sah, war ich so entsetzt, dass ich die Augen abwandte. Ich weiß nicht, was für eine geheime Macht mich veranlasste, sie erneut zu öffnen, wenngleich nur kurz. Ich schloss sie wieder, sah erneut hin, sah noch einmal hin, bis ich schließlich endgültig aus dem Schlafzimmer zurückwich.
    «Er hat so gelitten!», seufzte der Vater.
    «Mein armer Manduca!», schluchzte die Mutter.
    Ich wollte gehen, sagte, dass ich zu Hause erwartet würde, und verabschiedete mich. Der Vater fragte, ob ich ihm die Ehre erweisen würde, zur Beerdigung zu kommen. Ich antwortete ehrlich, dass ich das noch nicht wisse. Ich würde tun, was meine Mutter wünsche. Dann eilte ich fort, durchquerte den Laden und stürzte hinaus auf die Straße.
    86
    Liebt, ihr jungen Männer!
    Der Heimweg war so kurz, dass ich keine drei Minuten

Weitere Kostenlose Bücher