Dom Casmurro
Witwe stützte, schien sich unter Kontrolle zu haben. Sie tröstete die Freundin und versuchte, sie vom Sarg loszureißen. In dem großen Durcheinander sah Capitu einen Moment lang so intensiv, so leidenschaftlich intensiv auf den Leichnam, dass aus ihren Augen ein paar stumme Tränen flossen.
Meine Tränen versiegten augenblicklich. Ich beobachtete die ihren. Capitu wischte sie rasch ab und sah sich verstohlen nach den Menschen im Saal um. Anschließend kümmerte sie sich noch hingebungsvoller um ihre Freundin. Sie wollte sie hinausführen, doch der Leichnam schien nun auch sie zurückzuhalten. Einen Moment lang blickten Capitus Augen auf dieselbe Weise wie die der weinenden und klagenden Witwe auf den Leichnam, geweitet und groß wie das draußen wogende Meer, als wollten sie den morgendlichen Schwimmer ebenfalls verschlingen.
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Die Rede
«Gehen wir, es ist an der Zei t …»
Es war José Dias, der mich aufforderte, den Sarg zu schließen. Wir schlossen ihn, und während ich nach einem der Trageringe griff, erklang das letzte Wehklagen.
Ich schwöre, dass ich, als ich an der Tür angelangt war und die strahlende Sonne, die vielen Kutschen und Menschen mit bedeckten Häuptern erblickte, einen jener Impulse verspürte, die man nie in die Tat umsetzt: Ich wollte den Sarg samt dem Toten und allem anderen auf die Straße schleudern. In der Kutsche bat ich José Dias zu schweigen. Auf dem Friedhof musste ich noch einmal die gleiche Zeremonie wie im Haus durchführen: die Riemen lösen und mithelfen, den Sarg zum Grab zu tragen. Wie schwer mir das fiel, kannst du dir sicher vorstellen. Nachdem der Sarg hinabgelassen war, wurden Kalk und eine Schaufel gebracht; das kennst du wohl, lieber Leser, denn bestimmt bist du bei mehr als nur einem Begräbnis gewesen. Aber weder du noch einer deiner Freunde oder irgendein Fremder kann ermessen, in welche Krise es mich stürzte, als ich sah, dass sämtliche Augen auf mich gerichtet, alle Füße still, sämtliche Ohren gespitzt waren und nach ein paar Minuten vollkommener Stille ein leises Flüstern, ein paar fragende Stimmen zu vernehmen waren, Zeichen gegeben wurden und jemand, nämlich José Dias, mir ins Ohr flüsterte: «Nun sprich schon.»
Es ging um die Grabrede. Sie wollten die Rede hören. Sie hatten ein Recht auf die angekündigte Rede. Mechanisch griff ich in die Tasche, holte das Papier hervor und las stockend vom Blatt ab, nicht alles und auch nicht flüssig oder deutlich. Statt aus mir herauszukommen, schien meine Stimme in mich hineinzugehen, und meine Hände zitterten. Ausgelöst wurde dies nicht nur durch das neue Gefühl, sondern auch durch den Text selbst. Ich sollte an den Freund erinnern, meine Sehnsucht eingestehen, seine Person und seine Verdienste preisen: All das musste gesagt werden und wurde schlecht gesagt. Ich fürchtete, man könne mir die Wahrheit ansehen, und gab mir große Mühe, sie gut zu verbergen. Ich glaube, es hörten mich nur wenige, doch erntete ich allgemeines Verständnis und Zustimmung. Die Hände, die die meinen drückten, zeigten sich mitfühlend, und einige Menschen sagten: «Eine sehr schöne Rede! Wirklich sehr schön! Großartig!» José Dias fand, Beredtheit und Mitgefühl hätten in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander gestanden. Ein Mann, der offensichtlich Journalist war, bat mich um das Manuskript, weil er es veröffentlichen wollte. Nur meiner großen Verwirrung ist es zuzuschreiben, dass ich dieses einfache Ansinnen zurückwies.
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Ein Vergleich
Priamos 75 hielt sich für den unglücklichsten aller Menschen, weil er dem Mörder seines Sohnes die Hand geküsst hatte. Darüber berichtet Homer, und der ist ein guter Autor, obwohl er alles in Versen erzählt. Doch selbst in Versen, und sogar in schlechten Versen, sind wahrheitsgetreue Schilderungen möglich.
Vergleiche nun Priamos’ Lage mit der meinen, lieber Leser. Ich hatte gerade die Tugenden jenes Mannes gepriesen, der als Leichnam diese Blicke empfin g …
Mit meiner Geschichte hätte Homer bestimmt eine noch größere Wirkung erzielen können, oder zumindest eine gleich große. Sag nicht, es fehle uns aus den von Camões angeführten Gründen an Autoren wie Homer; 76 nein, mein Lieber, sie fehlen uns zwar, aber nur, weil Menschen wie Priamos den Schatten und das Schweigen suchen. Ihre Tränen, sofern sie denn welche haben, werden hinter der Tür getrocknet, damit ihre Gesichter hell und sauber erscheinen; ihre Reden sind eher heiter als schwermütig, und
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