Dom Casmurro
alles ist so, als hätte Achilles Hektor niemals getötet.
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Grübeleien
Kaum, dass wir den Friedhof verlassen hatten, zerriss ich die Rede und warf die Schnipsel zur Kutschentür hinaus, trotz José Dias’ Versuchen, dies zu verhindern.
«Die Rede taugt nichts», sagte ich, «und da ich versucht sein könnte, sie veröffentlichen zu lassen, zerstöre ich sie lieber ein für alle Mal. Sie taugt nichts, ist einfach nichts wert.»
José Dias bewies mir wortreich das Gegenteil, pries das Begräbnis und stimmte am Ende ein Loblied auf den Toten an: eine großartige Seele, ein lebendiger Geist, ein aufrechtes Herz und ein Freund, ein guter Freund, der liebenden Gattin würdig, die Gott ihm gegeben hatt e …
An dieser Stelle seines Vortrags ließ ich ihn einfach weiterreden und begann, vor mich hin zu grübeln. Meine Gedanken waren so düster und wirr, dass ich keine Klarheit hineinbekam. In Catete ließ ich die Kutsche anhalten und sagte zu José Dias, er möge die Damen in Flamengo abholen und nach Hause bringen; ich würde zu Fuß gehen.
«Abe r …»
«Ich muss noch jemanden besuchen.»
Der eigentliche Grund war, dass ich den Grübeleien ein Ende setzen und zu einem der Lage angemessenen Entschluss finden wollte. Die Kutsche wäre schneller als meine Beine, welche hingegen langsam oder schnell gehen, verharren, anhalten, gewundene Wege einschlagen und den Kopf ganz in Ruhe grübeln lassen konnten. So ging ich also zu Fuß und grübelte. Inzwischen hatte ich bereits Sanchas Verhalten vom Vortag mit ihrer jetzigen Verzweiflung verglichen; beides war unvereinbar. Sie war wirklich eine liebende Witwe. Damit erloschen meine eitlen Illusionen gänzlich. Aber galt nicht dasselbe auch für Capitu? Ich versuchte, mir erneut ihre Augen in Erinnerung zu rufen, die Pose, in der ich sie gesehen hatte, die Menschenansammlung, die ihr Deckung geboten hatte, sollte sie Anlass gehabt haben, Deckung zu suchen. Was hier logisch und schlüssig aufgeführt ist, war zuvor, bedingt durch das Schaukeln der Kutsche und José Dias’ Dazwischenreden, ein Wirrwarr von Gedanken und Gefühlen gewesen. Nun jedoch überlegte ich und erinnerte mich klar und deutlich. Und ich kam für mich zu dem Schluss, dass es die alte Leidenschaft war, die noch immer meinen Blick trübte und mich hatte fantasieren lassen.
Als ich zu dieser Schlussfolgerung gelangte, war ich auch schon zu Hause angekommen, doch ich machte noch einmal kehrt und stieg erneut die Rua do Catete hoch. Waren es die Zweifel, die mich quälten, oder eher das Bedürfnis, Capitu zu quälen, indem ich so lange ausblieb? Sagen wir, es war beides. Ich ging noch ein gutes Stück weiter, bis ich spürte, dass ich ruhiger wurde. Dann machte ich mich auf den Heimweg. In einer Bäckerei schlug es acht Uhr.
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Der Barbier
In der Nähe unseres Hauses wohnte ein Barbier, der mich vom Sehen kannte. Er liebte die Rebec 77 und spielte sie nicht einmal schlecht. Als ich nun dort vorüberging, übte er gerade ein bestimmtes Stück, an dessen Titel ich mich nicht mehr erinnere. Ich blieb auf dem Bürgersteig stehen und hörte ihm zu (einem gequälten Herzen dient alles zum Vorwand). Er entdeckte mich und spielte weiter. Es kam der erste Kunde und der zweite, beide wollten sie ihre Gesichter seinem Rasiermesser anvertrauen, obwohl es schon spät und zudem Sonntag war. Doch seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich seinen Noten, denn er spielte nun für mich. Diese Ehrerbietung veranlasste mich, an die Ladentür zu treten und mich ihm ganz offen zuzuwenden. Im Hintergrund sah ich eine dunkelhäutige junge Frau mit hellem Kleid und Blume im Haar den Kattunvorhang beiseiteschieben, der den Wohnraum vom Laden trennte. Es war seine Frau. Ich glaube, sie hatte mich von drinnen bemerkt und wollte mir nun mit ihrer Anwesenheit für die Gunst danken, die ich ihrem Mann erwies. Wenn ich mich nicht irre, sagte sie mir dies mit ihren Augen. Der Mann hingegen spielte nun mit noch größerer Leidenschaft; die Frau sah er nicht, die Kunden sah er nicht; das Gesicht an das Instrument gepresst, legte er seine ganze Seele in den Bogen und spielte und spielt e …
Göttliche Kunst! Als sich bereits ein kleiner Menschenauflauf gebildet hatte, verließ ich meinen Platz an der Ladentür und ging nach Hause. Dort betrat ich den äußeren Korridor und stieg leise die Stufen hoch. Das Erlebnis mit dem Barbier habe ich nie wieder vergessen, vielleicht, weil es sich in einem schweren Moment meines Lebens ereignete,
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