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zugedeckt. Die Vorhänge waren zu Leichentüchern geworden.
Und die Toiletten waren nur über das Foyer zu erreichen.
Margaret, um Himmels willen, wach auf, ich brauche dich.
Der Vorraum, den sie ›die Gruft‹ nannten, war wie eine Schleuse, er war das Niemandsland zwischen dem
unterirdischen Kino und der von todbringenden Staub erfüllten Außenwelt. Die Überlebenden vermieden es nach Möglichkeit, diese Schleuse zu betreten. Sie sorgten dafür, dass die Verbindungstüren sofort wieder geschlossen wurden. Das Ausmaß der radioaktiven Strahlung, die im Foyer herrschte, wurde als gering beurteilt, weil die breite Treppe, die nach oben führte, mit dem Trümmerschutt der oberen Stockwerke aufgefüllt war. Um zur Cafeteria zu gelangen, hatte der Spähtrupp den Notausgang benutzt, der mit einer schweren Eisentür gesichert war. Im Foyer gab es eine Reihe von Münztelefonen, niedrige Tische und Schemel, die fest im Boden verankert waren, und die Türen, die zu den Toiletten führten. Man hatte sehr bald festgestellt, dass die Wasserhähne der Waschbecken noch funktionierten. Allerdings befürchtete man, dass diese Quelle bald versiegen würden. Aber auch wenn eines Tages kein Trinkwasser mehr aus den Hähnen tröpfelte, die Toiletten blieben von unschätzbarem Wert, weil sich auf diese Weise ein Mindestmaß von Hygiene aufrechterhalten ließ. Dass das Wasser wahrscheinlich radioaktiv verseucht war, kümmerte die Menschen in ihrem unterirdischen Versteck wenig. Es gab kein anderes Wasser. Wer nicht trank, würde verdursten, noch bevor die Strahlung sich auswirken konnte.
Sharon wusste jetzt, dass sie den Weg durch die Gruft allein antreten musste.
Sie stand auf, schob sich an den Schlafenden, die in ihrer Sitzreihe lagen, vorbei und tastete sich vor bis zur Tür. Sie nahm eine der Kerzen, die auf dem Vorratsstapel lagen, und entzündete sie an dem flackernden Lichtstumpf, der den Gang diesseits der Sitzreihen beleuchtete. Dann ergriff sie den Türknopf, öffnete und schlüpfte durch den Spalt. Sie spürte, wie ihre Brüste den Türrahmen streiften, und zuckte zusammen, als sie das Türschloss klicken hörte. Sie hob die Kerze über den Kopf, um das von kühler Düsternis erfüllte Mausoleum zu betrachten.
Im Kino hatte sich eine Gestalt von der Schlafstätte in den hinteren Sitzreihen erhoben.
Sharon war froh, dass der Schein ihrer Kerze nicht bis zu den Leichen drang, die in einer Ecke des Vorraums lagen. Der Verwesungsgeruch genügte ihr. Rasch durchquerte sie das mit einem dicken Spannteppich ausgelegte Foyer. Sie sah die Spuren nicht, die sie auf der Staubschicht zurückließ. Sie öffnete die Tür zur Toilette und ging auf die beiden Kabinen zu, die in der äußersten Ecke des Raumes zu erkennen waren.
Die beiden Türen standen offen. Sie betrat eine Kabine und schob den Riegel vor. Sie zog den Bauch ein, öffnete den Knopf ihrer Jeanshose, zog den Reißverschluss nach unten, ließ sich auf der Toilettenschüssel nieder und erleichterte sich. Als der Strom, der zwischen ihren Schenkeln hervorquoll, verebbt war, beugte sie sich vor und starrte auf die Kerze, die sie in den Spalt zwischen Tür und Fußboden gestellt hatte. In der winzigen Flamme erschienen Gesichter und Bildnisse.
Erinnerungen. Mein Leben, als man es noch Leben nennen konnte. Sharon kämpfte mit den Tränen. Habe ich es überhaupt verdient, dass ich überlebt habe? Als die Sirenen zu heulen begannen, hatte sie nur noch an sich selbst gedacht. Rette sich, wer kann. Inmitten einer wild flüchtenden Menge hatte sie den Eingang des Barbican Centre erreicht. Sie war die Stufen hinuntergerannt und zu Fall gekommen. Sie hatte in jenen Sekunden nur noch ein Ziel gehabt. Das unterirdische Kino.
Wohlweislich hatte sie darauf verzichtet, einen der Fahrstühle zu nehmen, die das Erdgeschoß mit dem Kino verbanden. Sie war sicher, dass der Strom ausfallen würde. Die Fahrstühle würden auf halbem Wege steckenbleiben und sich in Särge verwandeln. Dann die Erschütterung der Fundamente, die furchtbare Explosion, Hitze, Atemnot und…
Die Kerze hatte zu flackern begonnen. Zug. Sharon vermeinte ein Geräusch zu hören. Die Tür, die das Foyer mit den Toiletten verband.
Sharon stand auf und zog sich die Jeans über die nackten Hüften. Sie zupfte am Reißverschluss und lauschte.
Schritte?
»Ist da jemand?« sagte sie leise.
Einbildung?
Spielten die Nerven ihr einen Streich?
Vielleicht.
Sie bückte sich, nahm die Kerze hoch und schob den Riegel
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