Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
lockere Haltung an. Dann entschied Nestor sich nach kurzem Zögern für eine Stelle. Pablito seufzte erleichtert. Ich wußte, daß der Platz, den Nestor gewählt hatte, der richtige war, aber ich hatte keine Ahnung, wieso ich das wußte. Also beschäftigte ich mich mit dem Scheinproblem, mir vorzustellen, welche Stelle ich gewählt hätte, falls ich die Führung gehabt hätte. Doch ich konnte mir nicht einmal ansatzweise ausmalen, wie ich dabei vorgegangen wäre. Pablito erkannte offenbar, was mich beschäftigte. »Das darf man nicht«, flüsterte er mir zu. Ich lachte verlegen, als habe er mich bei etwas Unerlaubtem ertappt. Lachend erzählte Pablito, daß Don Genaro mit den beiden oft in den Bergen umhergewandert sei und jedem von ihnen von Zeit zu Zeit die Führung überlassen habe, damit sie lernten, daß es unmöglich sei, sich vorzustellen, für welchen Platz man selbst sich entscheiden würde. »Man kann das deshalb nicht, sagt Genaro, weil es nur richtige oder falsche Entscheidungen gibt«, sagte er. »Wenn du eine falsche Entscheidung triffst, dann weiß dein Körper das, und auch der Körper jedes anderen weiß es. Aber wenn du eine richtige Entscheidung triffst, weiß der Körper es ebenfalls, und er entspannt sich und vergißt auf der Stelle, daß überhaupt eine Entscheidung getroffen worden ist. Du lädst deinen Körper wieder auf - wie ein Gewehr, weißt du - für die nächste Entscheidung. Wenn du deinen Körper noch einmal benutzen willst, um die gleiche Entscheidung zu treffen, dann funktioniert er nicht.«
Nestor schaute mich an; anscheinend kam es ihm merkwürdig vor, daß ich mitschrieb. Jetzt nickte er zustimmend, als wolle er Pablito beipflichten, und dann lächelte er zum erstenmal, seit ich ihn kannte. Zwei von seinen oberen Zähnen waren verwachsen. Pablito erklärte, daß Nestor keineswegs bösartig oder abweisend sei, sondern sich wegen seiner Zähne geniere und daß dies der Grund sei, warum er nie lächele. Nestor lachte und hielt sich die Hand vor den Mund. Ich sagte ihm, ich könne ihn zu einem guten Zahnarzt schicken, der seine Zähne richten werde. Sie hielten den Vorschlag für einen Witz und lachten wie zwei Kinder.
»Genaro sagt, er muß seine Scheu allein überwinden«, sagte Pablito. »Außerdem, sagt Genaro, soll er froh darüber sein. Die meisten Leute können nur normal beißen, aber Nestor kann mit seinen starken krummen Zähnen einen Knochen der Länge nach spalten, und er kann dir ein Loch durch den Finger beißen, wie mit einem Nagel.«
Nestor öffnete den Mund und zeigte mir sein Gebiß. Der Schneidezahn und der Eckzahn oben waren einwärts gewachsen. Er klapperte mit den Zähnen, und dann schnappte und knurrte er wie ein Hund. Zwei- oder dreimal tat er so, als wolle er mich anfallen und beißen. Pablito lachte. Nie zuvor hatte ich Nestor so unbeschwert erlebt. Die wenigen Male, die ich mit ihm zusammengewesen war, hatte er auf mich wie ein Mann in mittleren Jahren gewirkt. Wie er nun vor mir saß und mit seinen schiefen Zähnen lächelte, staunte ich über seine Jugendlichkeit. Er sah aus wie ein junger Mann von Anfang Zwanzig.
Wieder hatte Pablito meine Gedanken genau erraten. »Er legt seine Wichtigtuerei ab«, sagte er. »Deshalb ist er jetzt jünger.« Nestor nickte zustimmend und ließ, ohne ein Wort zu sagen, einen lauten Furz fahren. Ich war entsetzt und ließ meinen Bleistift fallen.
Pablito und Nestor kugelten sich vor Lachen. Nachdem sie sich beruhigt hatten, rückte Nestor zu mir heran und zeigte mir einen selbstgebauten Apparat, der ein komisches Geräusch machte, wenn man ihn mit der Hand zusammendrückte. Genaro, sagte er, habe ihm gezeigt, wie man so etwas mache. Die Vorrichtung hatte einen winzigen Blasebalg, und als Zunge diente ein Blatt oder Gras, das man in einen Schlitz zwischen den zwei Holzleisten steckte, die als Lippen dienten. Das Ding machte, wie Nestor mir erklärte, verschiedene Geräusche, je nachdem, was für ein Blatt man als Zunge verwendete. Er wollte, daß ich es ausprobierte, und zeigte mir, wie man die Lippen zusammenpressen mußte, um ein bestimmtes Geräusch hervorzubringen, und wie man sie auseinanderziehen mußte, um ein anderes zu produzieren. »Wozu ist das gut?« fragte ich. Die beiden wechselten einen Blick.
»Das ist sein Geist-Fänger, du Esel«, fuhr Pablito mich an. Sein Ton war grob, aber sein Lächeln freundlich. Die beiden waren eine eigenartig entnervende Mischung aus Don Genaro und Don Juan.
Nun kam mir ein
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