Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
mit Hilfe seines Rufs führen.«
»Was ist das für ein Ruf?«
»Ich weiß nicht. Sein Ruf gilt dir, nicht mir. Genaro wird unmittelbar deinen Willen ansprechen. Mit anderen Worten, du mußt deinen Willen benutzen, um den Ruf zu erkennen. Genaro meint, er muß sich nunmehr davon überzeugen, daß du genügend persönliche Kraft angesammelt hast, imstande zu sein, deinen Willen zu etwas Funktionsfähigem zu machen.«
»Wille« war ein Begriff, den Don Juan ebenfalls sehr sorgfältig umschrieben hatte, ohne ihn jedoch zu erklären. Aus seinen Erläuterungen konnte ich entnehmen, daß »Wille« eine Kraft sei, die vom Unterleib ausging, und zwar durch eine unsichtbare Öffnung unterhalb des Nabels, eine Öffnung, die er als »Lücke« bezeichnete. »Wille« war etwas, das angeblich nur Zauberer entwickelten. Er wird demjenigen, der die Zauberei praktiziert, als Mysterium zuteil und verleiht ihm angeblich die Fähigkeit, unglaubliche Taten zu vollbringen. Es sei wohl aussichtslos, bemerkte ich zu Don Juan, daß etwas so Unbestimmtes in meinem Leben jemals zu einer funktionierenden Einheit werden könnte.
»Da irrst du dich«, sagte er. »Der Wille entwickelt sich beim Krieger entgegen allen Widerständen der Vernunft.«
»Kann Don Genaro, da er doch ein Zauberer ist, denn nicht, ohne mich auf die Probe zu stellen, wissen, ob ich bereit bin oder nicht?«, fragte ich.
»Gewiß kann er das«, sagte er. »Aber dieses Wissen bliebe ohne Wert und ohne Folgen, denn es hätte nichts mit dir zu tun. Du bist der Lernende, daher mußt du selbst dir Wissen als Kraft erwerben, nicht aber Genaro. Genaro kommt es weniger auf sein Wissen als auf dein Wissen an. Du mußt herausfinden, ob dein Wille funktioniert oder nicht. Dies festzustellen ist sehr schwierig. Unabhängig davon, was Genaro oder ich über dich wissen, mußt du dir selbst beweisen, daß du in der Lage bist, Wissen als Kraft zu beanspruchen. Mit anderen Worten, du mußt dich selbst davon überzeugen, daß du deinen Willen betätigen kannst. Wenn du es noch nicht bist, dann mußt du heute davon überzeugt werden. Kannst du diese Aufgabe nicht lösen, dann wird Genaro, unabhängig davon, was er vielleicht an dir sieh:, daraus schließen, daß du noch nicht bereit bist.« Mich befiel eine unwiderstehliche Furcht. »Ist all dies denn notwendig?« fragte ich. »Es ist Genaros Wunsch, und du mußt ihm nachkommen«, sagte er bestimmt, aber freundlich. »Aber was hat Don Genaro mit mir im Sinn?«
»Das wirst du heute vielleicht herausfinden«, sagte er lächelnd. Ich bedrängte Don Juan, mir aus dieser unerträglichen Situation herauszuhelfen und mir all diese geheimnisvollen Reden zu erklären. Er lachte und klopfte mir auf die Brust, wobei er über einen mexikanischen Gewichtheber witz elte, der gewaltig entwickelte Brustmuskeln hatte, aber keine schwere Arbeit leisten konnte, weil sein Rücken zu schwach war. »Schau diese Muskeln an!« sagte er. »Sie sollten nicht nur zum Vorzeigen da sein.«
»Meine Muskeln haben gar nichts mit dem zu tun, wovon du sprichst«, sagte ich streitlustig.
»Doch«, antwortete er. »Der Körper muß vollkommen sein, bevor der Wille eine funktionierende Einheit wird.« Don Juan war es gelungen, meine Überlegungen in eine andere Richtung zu lenken. Ich war unruhig und frustriert. Ich stand auf. ging in die Küche und trank etwas Wasser. Don Juan folgte mir und schlug vor. ich solle mich in dem Tierschrei üben, den Don Genaro mir beigebracht hatte. Wir gingen neben das Haus: ich setzte mich auf einen Holzstapel und versenkte mich ganz in die Nachahmung dieses Schreies. Don Juan korrigierte mich und gab mir ein paar Hinweise für meine Atmung. Das Ergebnis war ein Zustand vollkommener physischer Entspannung.
Wir kehrten auf die Veranda zurück und setzten uns wieder. Ich sagte ihm. wie sehr ich mich manchmal über mich ärgerte. weil ich so hilflos sei.
»Es ist nichts Schlechtes an dem Gefühl, hilflos zu sein«, sagte er. »Wir alle kennen es nur zu gut. Denk daran, daß wir eine Ewigkeit als hilflose Kinder leben! Ich sagte dir ja schon, daß du im Augenblick wie ein kleines Kind bist, das noch nicht allein aus der Wiege klettern, geschweige denn selbständig handeln kann. Genaro hilft dir sozusagen aus der Wiege heraus, indem er dich aufhebt. Aber ein Kind will handeln. und da es das nicht kann, jammert es eben. Dies ist an sich nicht schlecht, aber etwas anderes ist es, sich gehenzulassen und in Grübeln und Jammern zu schwelgen.«
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