Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
Vom Netzwerk:
zu schenken, wie Don Juan und Don Genaro es getan hatten. Da es mir unmöglich war, eine gewisse Ordnung in unseren Meinungsaustausch zu bringen, gab ich mich meinen eigenen Überlegungen hin. Ich hatte immer geglaubt, mein einziger Fehler, der mich hinderte, voll in Don Juans Welt einzutreten, sei mein hartnäckiges Bemühen, alles und jedes rational zu begründen; aber die Anwesenheit von Pablito und Nestor vermittelte mir eine neue Einsicht über mich selbst. Ein weiterer Fehler von mir war nämlich meine Ängstlichkeit. Sobald ich mich über die sicheren Grenzen des gesunden Menschenverstands hinauswagte, verlor ich mein Selbstvertrauen und erschrak über die furchtbare Wahrheit dessen, was sich vor meinen Augen abspielte. So war es mir auch unmöglich zu glauben, daß ich in den Abgrund gesprungen war. Don Juan hatte immer behauptet, das einzig entscheidende Problem bei der Zauberei sie die Wahrnehmung, und dementsprechend hatten er und Don Genaro bei unserer letzten Begegnung auf dem Tafelberg ein gewaltiges kathartisches Drama inszeniert. Nachdem sie mich aufgefordert hatten, mit lauter klarer Stimme allen Dank zu sagen, die mir jemals geholfen hatten, erstarrte ich in freudiger Erregung. In diesem Moment hatten sie meine ganze Aufmerksamkeit gefesselt und brachten meinen Körper dazu, die in ihrem geistigen Bezugsrahmen einzig mögliche Handlung wahrzunehmen: den Sprung in den Abgrund. Dieser Sprung war praktisch das Werk meiner Wahrnehmung, nicht als gewöhnlicher Mensch, sondern als Zauberer.
    Ich hatte mich so in die Niederschrift meiner Gedanken vertieft, daß ich gar nicht bemerkte, daß Nestor und Pablito aufgehört hatten zu sprechen und alle drei mich anschauten. Ich erklärte ihnen, es sei mir ganz unmöglich zu verstehen, was bei diesem Sprung vor sich gegangen war.
    »Da gibt's nichts zu verstehen«, sagte Nestor. »Die Dinge geschehen einfach, und niemand kann sagen, wie. Frag doch Benigno, ob er überhaupt verstehen will.«
    »Willst du verstehen?« fragte ich Benigno im Scherz. »Und ob ich will!« brüllte er mit tiefer Baßstimme und brachte alle zu Lachen.
    »Du läßt dich gehen, indem du sagst, daß du verstehen willst«, fuhr Nestor fort.
    »Genau wie Pablito sich gehenläßt, wenn er sagt, daß er sich an nichts erinnert.« Er schaute Pablito an und blinzelte mir zu.
    Nestor fragte mich, ob mir an Pablitos Stimme etwas aufgefallen sei, als wir uns zu unserm Sprung anschickten. Ich mußte zugeben, daß meine eigene Situation nicht dazu angetan gewesen war, auf etwas so Flüchtiges wie Pablitos Stimme zu achten. »Ein Krieger muß auf alles achten«, sagte er. »Das ist sein Trick, und darin, sagte der Nagual, liegt sein Vorteil.« Er lächelte und machte eine übertriebene Gebärde der Verlegenheit, wobei er sein Gesicht mit dem Hut bedeckte. »Was war's denn, das mir an Pablitos Stimme entgangen ist?« fragte ich ihn.
    »Pablito war bereits gesprungen, bevor er über die Kante ging«, sagte er. »Er brauchte gar nichts zu tun. Statt zu springen, hätte er sich ebensogut am Rand des Abgrundes hinsetzen können.«
    »Was willst du damit sagen«, fragte ich.
    »Pablito löste sich bereits auf«, erwiderte er. »Deshalb glaubte er auch, er sei ohnmächtig geworden. Aber Pablito lügt. Er verheimlicht etwas.«
    Pablito wollte etwas zu mir sagen. Er murmelte ein paar unverständliche Worte, dann gab er es auf und ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. Auch Nestor versuchte noch etwas zu sagen. Ich unterbrach ihn. Ich sagte, ich sei nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hätte.
    »Hat Pablitos Körper sich aufgelöst?« fragte ich. Er blickte mich lange an und sagte kein Wort. Er hatte bisher rechts neben mir gesessen. Jetzt rückte er schweigend auf die Bank mir gegenüber.
    »Du mußt das, was ich sage, ernst nehmen«, sagte er. »Es ist unmöglich, das Rad der Zeit zurückzudrehen und wieder das zu werden, was wir vor diesem Sprung waren. Der Nagual sagte, es ist eine Ehre und eine Lust, ein Krieger zu sein, und ein Krieger muß glücklich sein, das tun zu dürfen, was er tun muß. Ich muß dir makellos berichten, was ich als Zeuge gesehen habe. Pablito löste sich auf. Als ihr beide zum Rand lieft, warst nur du ein fester Körper. Pablito war wie eine Wolke. Er glaubt, er wäre hingefallen, und du glaubst, du hättest ihn am Arm gehalten, um ihm zu helfen, die Kante zu erreichen. Keiner von euch beiden hat recht. Und ich zweifle nicht daran, daß es besser für euch beide gewesen

Weitere Kostenlose Bücher