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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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lachte und erzählte Nestor, ich sei jetzt auf der Hut, weil sein eigner Bericht über das Ereignis mich so tief enttäuscht habe.
    »Ich bin nach euch hinuntergesprungen«, sagte Nestor und schaute mich an, als warte er auf weitere Fragen. »Bist du unmittelbar nach uns gesprungen?« fragte ich. »Nein, ich brauchte einige Zeit, um mich bereit zu machen«, sagte er.
    »Genaro und der Nagual sagten mir nicht, was ich tun sollte. Dieser Tag war für uns alle eine Prüfung.« Pablito wirkte irgendwie niedergeschlagen. Er stand auf und ging im Zimmer hin und her. Dann setzte er sich und schüttelte mit einer Verzweiflungsgeste den Kopf.
    »Hast du uns wirklich über die Kante springen sehen? «fragte ich Nestor.
    »Ich bin der Zeuge«, sagte er. »Zeugnis ablegen, das war mein Weg zum Wissen. Es ist meine Aufgabe, dir makellos zu berichten, was ich als Augenzeuge gesehen habe.«
    »Aber was hast du wirklich gesehen?« fragte ich. »Ich sah euch, fest aneinander geklammert, zur Kante laufen«, sagte er. »Und dann sah ich euch beide wie zwei Drachen am Himmel. Pablito flog in gerader Linie hinaus und stürzte dann ab. Du stiegst etwas in die Höhe, dann bewegtest du dich ein Stück von der Kante weg, bevor du abstürztest.«
    »Aber sind wir mit unserem Körper gesprungen?« fragte ich. »Nun ja, ich glaube anders ging es wohl nicht«, lachte er. »Hätte es nicht eine Illusion sein können?« fragte ich. »Was willst du damit sagen, Maestro?« fragte er trocken. »Ich will wissen, was wirklich geschah«, sagte ich. »Bist du vielleicht gar in Ohnmacht gefallen, wie Pablito?« fragte Nestor mich mit blitzenden Augen.
    Ich versuchte ihm meine Zweifel und Fragen hinsichtlich des Sprungs zu erklären. Er hatte keine Geduld und unterbrach mich. Pablito mischte sich ein und wies ihn zurecht, und dann gerieten sie miteinander in Streit. Pablito entzog sich der Sache, indem er halb sitzend und seinen Stuhl festhaltend um den Tisch wanderte. »Nestor blickte nicht über seine Nasenspitze hinaus«, sagte er zu mir.
    »Mit Benigno ist es genauso. Aus denen bringst du nichts heraus. Wenigstens hast du mein volles Mitleid.« Pablito kicherte, seine Schultern zuckten und er verbarg sein Gesicht hinter Benignos Hut.
    »Soviel ich weiß, seid ihr beide gesprungen«, platzte Nestor plötzlich heraus.
    »Genaro und der Nagual ließen euch keine andere Wahl. Sie trieben euch in die Enge und drängten euch auf den einzigen offenen Ausweg zu. So sprangt ihr beide über die Kante. Das habe ich als Zeuge gesehen. Pablito behauptet, er habe nichts gespürt. Aber das bezweifele ich. Ich weiß, daß er alles bei vollem Bewußtsein erlebt hat. Doch er verstellt sich und behauptet lieber, er sei nicht bei Bewußtsein gewesen.«
    »Wirklich, das war ich nicht«, sagte Pablito entschuldigend. »Mag sein«, meinte Nestor trocken. »Aber ich selbst war bei Bewußtsein, und ich sah, wie eure Körper taten, was sie mußten, nämlich springen.«

Nestors Enthüllungen versetzten mich in einen seltsamen Gemütszustand. Die ganze Zeit hatte ich nach Bestätigung für das gesucht, was ich selbst wahrgenommen hatte. Aber kaum hatte ich diese Bestätigung, da erkannte ich, daß es für mich keinen Unterschied machte. Zu wissen, daß ich gesprungen war, und mich zu fürchten vor dem, was ich wahrgenommen hatte, das war eine Sache; nach bestätigender Übereinstimmung zu suchen, war eine andre. Ich wußte jetzt, daß das eine nicht notwendig mit dem andren zusammenhing. Ich hatte die ganze Zeit geglaubt, daß es meinen Intellekt von Ängsten und Zweifeln befreien würde, wenn jemand anders mich in der Meinung bestärkte, daß ich diesen Sprung getan hatte. Ich hatte mich geirrt. Die ganze Angelegenheit beunruhigte und verwirrte mich jetzt nur noch mehr.
    Ich versuchte Nestor zu erklären, daß ich zwar einzig mit der Absicht gekommen war, mir von ihnen beiden bestätigen zu lassen, daß ich gesprungen war; doch jetzt hätte ich meine Meinung geändert und wolle eigentlich nicht mehr davon reden. Die beiden fielen mir ins Wort und fingen gleichzeitig an zu sprechen, und wir gerieten in einen dreiseitigen Disput. Pablito behauptete, er sei nicht bei Bewußtsein gewesen; Nestor brüllte, Pablito lasse sich nur gehen; und ich sagte, ich wolle über den Sprung nichts mehr hören.
    Da wurde mir zum ersten Mal drastisch bewußt, daß keiner von uns über die nötige Ruhe und Selbstbeherrschung verfügte. Keiner von uns war bereit, dem anderen ungeteilte Aufmerksamkeit

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