Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
Pablito. »So wird er bleiben, bis er seine Form verliert. Genaro hat uns gesagt, daß wir früher oder später unsere Form verlieren werden, darum hat es keinen Zweck, wenn wir uns jetzt das Leben schwer machen und uns zu ändern versuchen, wie der Nagual es uns befohlen hat. Genaro sagte, wir sollen das Leben genießen und uns keine Sorgen machen. Du und die Frauen, ihr müht euch ab und macht euch Sorgen; wir dagegen genießen das Leben. Ihr versteht nicht, die Dinge zu genießen, und wir verstehen nicht, uns das Leben schwerzumachen. Sich das Leben schwermachen, das ist's, was der Nagual Makellosigkeit nannte; wir nennen es Dummheit, nicht wahr?«
»Du sprichst nur für dich selbst, Pablito«, sagte Nestor. »Benigno und ich, wir sind da anderer Meinung.«
Benigno brachte eine Schale voll Essen und stellte sie vor mich. Er servierte auch den anderen. Pablito untersuchte die Schüsseln und fragte Benigno, wo er sie gefunden habe. Benigno sagte, sie seien in dem Kasten gewesen, wo la Gorda sie aufbewahrte, wie sie ihm gesagt hatte. Pablito vertraute mir an, daß diese Schüsseln einst ihnen, den Genaros, gehört hatten, bevor sie sich von den Frauen trennten.
»Wir müssen vorsichtig sein«, sagte Pablito nervös. »Diese Schüsseln sind ganz bestimmt verhext. Diese Hexen haben etwas hineingetan. Ich werde lieber aus la Gordas Schüssel essen.« Nestor und Benigno fingen an zu essen. Jetzt merkte ich, daß Benigno mir die braune Schüssel gegeben hatte. Pablito war anscheinend sehr aufgewühlt. Ich wollte ihn beruhigen, aber Nestor hielt mich davon ab.
»Nimm ihn nicht so ernst«, sagte er. »Es gefällt ihm einfach, sich so zu benehmen. Er wird sich schon hinsetzen und essen. Das ist der Punkt, den ihr, du und die Frauen, nicht versteht. Ihr begreift einfach nicht, daß Pablito so ist. Ihr erwartet, daß jeder so sein soll wie der Nagual. La Gorda ist die einzige, die ihn ungerührt nimmt wie er ist, aber nicht weil sie ihn versteht, sondern weil sie ihre Form verloren hat.«
Pablito setzte sich und fing an zu essen, und wir vier leerten den ganzen Tiegel. Benigno wusch die Schüsseln aus und stellte sie vorsichtig in den Kasten zurück, und dann machten wir's uns am Tisch bequem. Nestor schlug vor, wir sollten bei Anbruch der Dunkelheit gemeinsam zu einer Schlucht in der Nähe wandern, wo Don Juan und Don Genaro und ich uns oft aufgehalten hatten. Irgendwie wiederstrebte es mir. Ich fühlte mich in ihrer Gesellschaft nicht sicher genug.
Nestor wandte ein, daß sie es gewöhnt seien, in der Dunkelheit zu wandern, und daß es die Kunst eines Zauberers sei, sich sogar inmitten einer Menschenmenge unsichtbar zu bewegen. Ich erzählte ihm, was Don Juan mir einmal gesagt hatte, bevor er mich in einer Einöde in den Bergen, nicht weit von hier, allein ließ. Damals hatte er mir befohlen, mich ganz auf die Aufgabe zu konzentrieren, nicht aufzufallen. Er sagte, daß die Leute in dieser Gegend einander alle vom Sehen kannten. Es seien zwar nicht sehr viele, aber diejenigen, die dort lebten, liefen dauernd herum und könnten einen Fremden meilenweit erkennen. Viele dieser Leute, so sagte Don Juan, hätten Feuerwaffen und es würde ihnen nichts ausmachen, mich zu erschießen. »Kümmere dich nicht um die Wesen der anderen Welt«, hatte Don Juan lachend gesagt. »Die einzig gefährlichen sind die Mexikaner.«
»Das ist immer noch wahr«, sagte Nestor. »Das ist seit jeher wahr. Das ist auch der Grund, warum Genaro und der Nagual solche Künstler waren. Sie hatten gelernt, sich unbemerkt zwischen alledem zu bewegen. Sie beherrschten die Kunst des Pirschens.«
Es war noch zu früh, um eine Wanderung durch die Dunkelheit zu machen. Ich wollte die Zeit nutzen und Nestor meine kritischen Fragen vorlegen. Bislang hatte ich es absichtlich vermieden; ein eigenartiges Gefühl hatte mich daran gehindert, ihm weitere Fragen zu stellen. Es war, als ob mein Interesse sich nach Pablitos erster Antwort erschöpft hätte. Aber jetzt kam Pablito selbst mir zu Hilfe und brachte ganz plötzlich das Thema zur Sprache, als habe er meine Gedanken gelesen. »Auch Nestor ist, genau wie wir, in den Abgrund gesprungen«, sagte er.
»Und auf diese Weise wurde er der Zeuge, du wurdest der Maestro, und ich wurde der Dorftrottel.« In gewollt gleichgültigem Ton bat ich Nestor, mir von seinem Sprung in den Abgrund zu erzählen. Ich tat so, als sei ich nur mäßig interessiert. Aber Pablito durchschaute meine erzwungene Gleichgültigkeit. Er
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