Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
Schließlich hielten die Schwesterchen inne und setzten sich mit dem Rücken zur Wand, jede unter eine der Laternen. Lidia saß an der östlichen Wand, Rosa an der nördlichen und Josefina an der westlichen.
La Gorda stand auf, zog die Tür hinter uns zu und sicherte sie mit einer Eisenstange. Sie hieß mich etwas zur Seite rücken, ohne daß ich meine Haltung veränderte, bis ich mit dem Rücken zur Tür saß. Dann rollte sie lautlos quer durchs Zimmer und setzte sich unter die Laterne an der südlichen Wand; ihr Platznehmen in dieser Haltung wirkte wie ein Stichwort. Lidia stand auf und bewegte sich auf Zehenspitzen an den Wänden entlang durchs Zimmer. Sie ging nicht eigentlich, eher war es ein lautloses Gleiten. Als sie ihr Tempo beschleunigte, begann sie sich wie ein Schlittschuhläufer zu bewegen, wobei sie genau auf die Kante zwischen Fußboden und Wänden trat. Sie sprang über Rosa, Josefina, la Gorda und mich hinweg, so oft sie an uns vorbei kam. Ich spürte jedesmal, wie ihr langes Kleid mich streifte. Je schneller sie lief, desto höher stieg sie an der Wand. Und dann kam der Augenblick, wo Lidia tatsächlich etwa zwei Meter über dem Boden lautlos an den vier Wänden des Zimmers entlang lief. Ihr Anblick, wie sie waagerecht über die Wände huschte, war so unheimlich, daß es ans Groteske grenzte. Ihr langes Gewand machte den Anblick noch beklemmender. Die Schwerkraft schien Lidia nichts anzuhaben, wohl aber ihrem langen Rock; er hing nach unten. Jedesmal wenn sie über meinen Kopf hinweg huschte, streifte er wie eine Schleppe über mein Gesicht. Sie hatte meine Aufmerksamkeit auf einer mir unbegreiflichen Ebene gefangen. Die Anstrengung, ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen, war so groß, daß ich Magenkrämpfe bekam; ich empfand ihr Laufen in meinem Bauch nach. Meine Augen gingen auseinander. Mit dem letzten Rest meiner Konzentration sah ich, wie Lidia an der westlichen Wand diagonal hinabstieg und in der Mitte des Zimmers stehenblieb. Sie keuchte atemlos und war in Schweiß gebadet, wie la Gorda nach ihrer Flugdarbietung. Sie konnte sich kaum im Gleichgewicht halten. Nach einer Weile ging sie an ihren Platz an der östlichen Wand zurück und fiel wie ein nasser Lappen zu Boden. Ich meinte schon, sie sei in Ohnmacht gefallen, aber dann bemerkte ich, daß sie absichtlich durch den Mund atmete. Nach einigen Minuten lautloser Stille - jedenfalls lang genug, daß Lidia wieder zu Kräften kam und sich aufrecht setzte - stand Rosa auf und lief geräuschlos zur Mitte des Zimmers, machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück zur Stelle, wo sie gesessen war. Mit diesem Anlauf gewann sie den nötigen Schwung, um einen unglaublichen Sprung zu tun. Wie ein Basketballspieler sprang sie vor der Wand senkrecht in die Luft, und ihre Hände griffen über die Höhe der Wand hinaus, die etwa 21/2 Meter betrug. Ich sah genau, wie ihr Körper gegen die Wand prallte, obwohl da kein entsprechendes Geräusch war. Ich erwartete, sie würde mit der Wucht des Aufpralls zurückstürzen, aber sie blieb dort hängen wie ein an der Wand befestigtes Pendel. Aus meinem Blickwinkel sah es so aus, als umklammerte sie mit der linken Hand so etwas wie einen Haken. Einen Moment schaukelte sie wie ein lautloses Pendel hin und her, dann katapultierte sie sich etwa einen Meter nach links, indem sie sich in dem Augenblick, als ihre Pendelbewegung am weitesten ausschlug, mit dem rechten Arm von der Wand abstieß. Dieses Hin- und Herschaukeln und Abstoßen wiederholte sie dreißig bis vierzigmal. Sie umkreiste das ganze Zimmer und bewegte sich dann an den Dachbalken weiter, wo sie in gefährlicher Höhe wie an einem unsichtbaren Haken hängend durch die Luft schaukelte. Als sie oben an den Dachbalken war, wurde mir bewußt, daß das, was ich für einen Haken in ihrer linken Hand gehalten hatte, eigentlich irgendeine unbenennbare Eigenheit dieser Hand war, die es ihr ermöglichte, ihr Gewicht daran zu hängen. Es war die gleiche Hand, mit der sie mich am vorletzten Abend attackiert hatte.
Ihre Vorstellung endete damit, daß sie genau in der Mitte des Zimmers von einem Balken herabbaumelte. Plötzlich ließ sie los. Sie fiel aus einer Höhe von etwa fünf Metern herab. Ihr langes Kleid blähte sich und schwebte um ihren Kopf. Einen Augenblick bevor sie geräuschlos landete, sah sie aus wie ein von der Kraft des Windes umgestülpter Regenschirm; ihr magerer nackter Körper sah aus wie ein an der dunklen Masse des Kleides befestigter
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