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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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also sagte er auch dasselbe.« Aus la Gordas Antworten konnte ich entnehmen, daß sie entweder nicht viel über das Thema wußte oder nicht mit mir darüber reden wollte. Ich trug ihr meine Gedanken vor. Sie räumte ein, daß sie dieser Frage nie viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte und wunderte sich, wieso ich ihr soviel Wert beilegte. So hielt ich ihr eine kleine Vorlesung über die Ethnographie Zentralmexikos. »Ein Zauberer ist ein Tolteke, wenn dieser Zauberer die Geheimnisse des Pirschens und Träumens empfangen hat«, sagte sie wie beiläufig. »Der Nagual und Genaro empfingen diese Geheimnisse von ihrem Wohltäter und bewahrten sie seither in ihrem Körper auf. Wir tun dasselbe, denn wir sind Tolteken wie der Nagual und Genaro.
    Der Nagual hat dich wie mich gelehrt, leidenschaftslos zu sein. Ich bin leidenschaftsloser als du, weil ich formlos bin. Du hast noch deine Form und bist leer, darum tappst du in jede Falle. Aber noch heute wirst du wieder vollständig sein, und dann wirst du verstehen, daß der Nagual recht hatte. In der Welt der Menschen, so sagte er, geht es auf und ab. Und die Menschen gehen mit ihrer Welt auf und ab; doch wir als Zauberer haben keinen Grund, ihnen in ihrem Auf und Ab zu folgen.
    Die Zauberer beherrschen die Kunst, abseits von allem und unbemerkt zu bleiben. Und mehr als alles andre beherrschen die Zauberer die Kunst, niemals ihre Kraft zu vergeuden. Dein Problem ist, so sagte der Nagual, daß du dich dauernd in Dummheiten verzettelst, wie du's auch eben tust. Ich bin sicher, du wirst jeden von uns über die Tolteken ausfragen, aber du wirst keinen von uns nach unserer Aufmerksamkeit fragen.« Ihr Lachen klang hell und ansteckend.
    Wieder mußte ich zugeben, daß sie recht hatte. Kleine Problemchen hatten mich immer fasziniert. Außerdem, sagte ich ihr, sei ich über ihre Verwendung des Wortes >Aufmerksamkeit< erstaunt.
    »Ich habe dir doch schon erzählt, was der Nagual mir über die Aufmerksamkeit gesagt hat«, sagte sie. »Mit unserer Aufmerksamkeit halten wir die Bilder der Welt fest. Die Ausbildung eines männlichen Zauberers ist sehr schwierig, weil seine Aufmerksamkeit immer geschlossen, immer auf etwas Bestimmtes gerichtet ist. Eine Frau dagegen ist offen, weil sie ihre Aufmerksamkeit meist auf nichts fixiert - besonders während ihrer Menstruation. Der Nagual hat mir gesagt und auch gezeigt, daß ich während dieser Zeit tatsächlich meine Aufmerksamkeit von den Bildern der Welt lösen kann. Wenn ich meine Aufmerksamkeit nicht auf die Welt richte, dann bricht die Welt zusammen.«
    »Wie geschieht das, Gorda?«
    »Das ist sehr einfach. Wenn eine Frau menstruiert, kann sie ihre Aufmerksamkeit nicht fixieren. Das ist der Spalt, von dem der Nagual mir erzählte; statt sich zu bemühen, die Bilder zu fixieren, sollte eine Frau sie loslassen, indem sie den Blick starr auf die fernen Berge richtet, indem sie auf eine Wasserfläche, etwa einen Fluß, oder zu den Wolken hinaufstarrt. Wenn du so mit offenen Augen starrst, wird es dir schwindlig und die Augen ermüden, aber wenn du sie halb geschlossen halst und oft blinzelst und sie von Berg zu Berg oder von Wolke zu Wolke wandern läßt, kannst du stundenlang, falls nötig tagelang so schauen. Der Nagual ließ uns vor der Tür sitzen und die Hügel auf der anderen Seite des Tales anstarren. Manchmal saßen wir tagelang da, bis der Spalt sich öffnete.«
    Ich wollte noch mehr wissen, aber sie sprach nicht weiter und rückte geschwind ganz nah an mich heran. Sie bedeutete mit einem Handzeichen, ich solle horchen. Ich hörte ein schwaches Rascheln, und plötzlich trat Lidia in die Küche hinaus. Ich vermutete, daß sie in ihrem Zimmer geschlafen hatte und durch unsre Stimmen geweckt worden war. Sie hatte die westliche Kleidung, die sie zuletzt getragen hatte, abgelegt und ein langes Gewand angezogen, wie es die Indianerinnen in dieser Gegend trugen. Sie hatte einen Schal um die Schultern geschlungen und war barfuß. Ihr langes Kleid ließ sie keineswegs älter und fülliger erscheinen, vielmehr sah sie aus wie ein Kind in den Kleidern einer erwachsenen Frau. Sie trat vor den Tisch und begrüßte la Gorda mit einem förmlichen »Guten Abend, Gorda«.
    Dann wandte sie sich an mich und sagte: »Guten Abend, Nagual.«
    Ihre Begrüßung war so unerwartet und ihr Tonfall war so ernst, daß ich beinah lachen mußte. Aber ich fing noch rechtzeitig la Gordas Warnung auf. Sie tat so, als ob sie sich am Kopf kratzte, und zwar mit der linken

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