Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
Hand, die zur Faust geschlossen war. Ich antwortete Lidia genauso, wie la Gorda es getan hatte:
»Guten Abend, Lidia.«
Sie setzte sich rechts von mir ans schmale Ende des Tisches. Ich wußte nicht recht, ob ich ein Gespräch beginnen sollte. Ich wollte gerade etwas sagen, als la Gorda mich mit dem Knie anstieß und mir mit einem unmerklichen Wink ihrer Augenbrauen bedeutete, ich solle lauschen. Wieder hörte ich das gedämpfte Rascheln eines über den Boden schleifenden langen Kleides. Josefina blieb einen Moment in der Tür stehen, bevor sie an den Tisch kam. Sie begrüßte Lidia, la Gorda und mich der Reihe nach. Bei ihr konnte ich keine ernste Miene bewahren. Sie trug ebenfalls ein langes Kleid, einen Schal und ging barfuß, aber bei ihr war das Kleid drei bis vier Nummern zu groß, und sie hatte es mit einem dicken Kissen ausgestopft. Ihr Aufzug war völlig widersinnig; ihr Gesicht war schmal und jung, aber ihr Körper wirkte grotesk aufgebläht. Sie zog eine Bank ans linke Ende des Tisches heran und setzte sich. Alle drei wirkten äußerst ernst. Sie saßen mit zusammengepreßten Knien und kerzengerade gestrecktem Rücken. Und wieder hörte ich das Rascheln eines Kleides, und Rosa kam aus dem Haus. Sie war wie die beiden andren gekleidet und ebenfalls barfuß. Ihre Begrüßung war ebenso förmlich, und natürlich bezog sie auch Josefina ein. Alle antworteten ihr im gleichen förmlichen Ton. Sie setzte sich mir gegenüber an den Tisch. Alle verharrten wir eine ziemliche Weile in völligem Schweigen. Plötzlich aber fing la Gorda an zu sprechen, und der Klang ihrer Stimme ließ alle auffahren. Sie zeigte auf mich und sagte, der Nagual werde ihnen seinen Verbündeten zeigen und er werde einen besonderen Ruf ausstoßen, um sie ins Zimmer zu holen. Ich versuchte einen Scherz anzubringen und meinte, der Nagual sei ja gar nicht da, darum könne er auch keine Verbündeten rufen. Ich glaubte, sie würden darüber lachen. La Gorda bedeckte ihr Gesicht, die Schwesterchen starrten mich an. La Gorda legte die Hand vor den Mund und flüsterte mir ins Ohr, es sei absolut notwendig, daß ich auf derlei dumme Scherze verzichtete. Dann blickte sie mir in die Augen und sagte, ich müsse die Verbündeten mit dem Ruf der Nachtfalter rufen.
Zögernd begann ich. Aber kaum hatte ich begonnen, da überwältigte mich die Stimmung des Augenblicks, und binnen Sekunden war ich mit höchster Konzentration dabei, dieses Geräusch hervorzubringen. Ich modulierte den Klang und kontrollierte die aus meinen Lungen strömende Luft, um das tuckernde Geräusch so lange wie möglich anzuhalten. Es klang sehr melodiös. Ich holte tief Luft, um eine neue Serie von Rufen zu beginnen. Aber augenblicklich hielt ich inne. Irgend etwas beantwortete von draußen meinen Ruf. Das Tuckern kam von überall, sogar vom Dach. Die Schwesterchen standen auf und drängten sich wie verängstigte Kinder an la Gorda und mich. »Bitte, Nagual, hol uns nichts ins Haus«, flehte Lidia mich an. Sogar la Gorda schien sich ein wenig zu ängstigen. Mit einer sehr eindringlichen Geste gebot sie mir Einhalt. Ich hatte ohnehin nicht mehr die Absicht, das Geräusch hervorzubringen. Die Verbündeten aber - ob es formlose Kräfte oder Wesen waren, die um das Haus schlichen - waren auf mein Tuckern nicht angewiesen. Wieder verspürte ich, wie schon mal in der vorvorigen Nacht in Genaros Haus, einen unerträglichen Druck, eine Schwere, die gegen das ganze Haus drückte. Ich empfand sie als Jucken im Nabel, als eine Nervosität, die bald in schiere physische Pein umschlug.
Die drei Schwesterchen waren außer sich vor Angst, besonders Lidia und Josefina. Beide winselten wie getretene Hunde. Sie drängten an meine Seite und klammerten sich an mich. Rosa kroch unter den Tisch und legte ihren Kopf zwischen meine Knie. La Gorda stand hinter mir und versuchte ruhig zu bleiben. Nach einer Weile steigerten sich Hysterie und Angst der drei Mädchen ins Ungeheure. La Gorda beugte sich vor und flüsterte mir zu, ich solle das entgegengesetzte Geräusch machen - jenes Geräusch, das die Wesen vertrieb. Ich war völlig ratlos. Ich kannte wirklich kein andres Geräusch. Dann aber spürte ich ein kurzes Jucken auf meiner Schädeldecke, ein Beben durchfuhr meinen Körper, und ich erinnerte mich wie aus dem Nichts an einen bestimmten Pfiff, den Don Juan manchmal in der Nacht ausgestoßen und auch mir .beizubringen versucht hatte. Er hatte ihn als Mittel empfohlen, um beim Gehen in der Dunkelheit
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