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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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sonst wärst du gestorben. Das ist auch der Grund, warum er meinte, daß du vielleicht genügend Energie haben würdest, um dein Nagual zweimal hervorkommen zu lassen. Er glaubte, du könntest vielleicht selbst deine Schichten zweimal zusammenhalten. Du hast es sogar öfter getan, und jetzt bist du am Ende; du hast nicht mehr die Energie, um bei einem weiteren Schock deine Schichten beisammen zuhalten. Der Nagual hat mich beauftragt, auf euch alle aufzupassen. Was dich betrifft, so soll ich dir helfen, deine Schichten zu festigen. Der Nagual hat gesagt, daß der Tod die Schichten auseinander schiebt. Er erklärte mir auch, daß das Zentrum unsrer Leuchtkraft, nämlich die Aufmerksamkeit für das Nagual, immer herausdrängt - und dies ist's, was die Schichten voneinander löst. Darum fällt es dem Tod leicht, hineinzuschlüpfen und sie ganz auseinander zuschieben. Zauberer brauchen all ihre Kraft, um ihre Schichten festzuhalten. Deshalb lehrte der Nagual uns das Träumen. Das Träumen festigt die Schichten. Wenn ein Zauberer träumen lernt, dann verbindet er seine zwei Seiten der Aufmerksamkeit, und jenes Zentrum braucht nicht mehr hervorzudringen.«
    »Willst du damit sagen, daß Zauberer nicht sterben?«
    »Richtig. Zauberer sterben nicht.«
    »Meinst du, daß keiner von uns sterben wird?«
    »Ich habe nicht von uns gesprochen. Wir sind nichts. Wir sind Wechselbälger - weder ganz hier, noch ganz dort. Ich habe von Zauberern gesprochen. Der Nagual und Genaro sind Zauberer. Bei ihnen sind die beiden Seiten der Aufmerksamkeit so fest verbunden, daß sie wahrscheinlich nie sterben werden.«
    »Hat der Nagual dir das gesagt, Gorda?«
    »Ja, er und Genaro, beide sagten sie es. Kurz bevor sie fortgingen, erklärte der Nagual uns die Kraft der Aufmerksamkeit. Bis dahin wußte ich nichts von Tonal und Nagual.« Und nun berichtete la Gorda, wie Don Juan sie über jenes entscheidende Gegensatzpaar Tonal/Nagual aufgeklärt hatte. Eine Tages, so erzählte sie, hatte der Nagual sie alle zusammengerufen, um sie auf eine lange Wanderung zu einem einsamen Felsental in den Bergen mitzunehmen. Er schnürte ein großes schweres Bündel, in das er alle möglichen Sachen tat - sogar Pablitos Kofferradio. Dann gab er Josefina das Bündel zu tragen. Pablito legte er einen schweren Tisch auf die Schultern, und so marschierten sie los. Während sie die vierzig Meilen zu jenem Ort in den Bergen wanderten, ließ er sie alle abwechselnd das schwere Bündel und den Tisch tragen.
    Als sie ankamen, befahl der Nagual Pablito, den Tisch genau in die Mitte des Tales zu stellen. Dann forderte er Josefina auf, den Inhalt des Bündels auf den Tisch zu legen. Als der Tisch vollgepackt war, erklärte er ihnen den Unterschied zwischen Tonal und Nagual, ähnlich wie er ihn mir damals in einem Restaurant in Mexico City erläutert hatte nur daß sein Beispiel in ihrem Fall unendlich viel anschaulicher war.
    Das Tonal, erklärte er ihnen, ist die Ordnung, die wir in unserer Alltagswelt wahrnehmen, und zugleich auch die persönliche Ordnung, die wir ein Leben lang auf den Schultern tragen, wie sie den Tisch und das Bündel getragen hatten. Das persönliche Tonal eines jeden von uns ist wie der Tisch in jenem Tal - eine winzige Insel voller uns vertrauter Dinge. Das Nagual dagegen ist die unerklärliche Ursache, die den Tisch an seinem Ort hält. Es ist wie die Leere dieses Wüstentales.
    Die Zauberer, sagte er, sind verpflichtet, ihr Tonal aus der Ferne zu beobachten, um besser zu begreifen, was wirklich um sie her geschieht. Er forderte sie auf, zu einem Felsgrat hinaufzusteigen, von wo sie die ganze Gegend überblicken konnten. Der Tisch war von dort oben kaum zu sehen. Dann forderte er sie auf, zum Tisch zurückzugehen und sich über ihn zu beugen; damit demonstrierte er ihnen, daß der gewöhnliche Mensch nicht das Verständnis eines Zauberers haben kann, weil der gewöhnliche Mensch direkt vor seinem Tisch steht und alles, was sich dort befindet, festhält. Dann forderte er sie — der Reihe nach - auf, mit einem raschen Blick die Objekte auf dem Tisch zu erfassen und stellte ihr Gedächtnis auf die Probe, indem er das eine oder andre Stück wegnahm und versteckte, um zu sehen, ob sie sich die Dinge aufmerksam eingeprägt hatten. Alle bestanden die Probe anstandslos. Daß sie sich so leicht an die Dinge auf dem Tisch erinnern konnten, so sagte er, war durch die Tatsache bedingt, daß sie ihre Aufmerksamkeit für das Tonal - oder die Aufmerksamkeit über

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