Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
wirkte wie einstudiert, aber es hatte auf mich einen ungeheuren Effekt. »Was ist es?« fragte ich atemlos.
Sie antwortete nicht. Sie nahm mich bei der Hand und führte mich zu einem Platz draußen vor der Tür. Dort mußte ich mich auf die festgestampfte Erde setzen und mich mit dem Rücken gegen einen dicken, etwa einen halben Meter hohen Pfahl lehnen, der wie ein neben der Hauswand in den Boden gerammter Baumstamm aussah. Es gab dort fünf solcher Pfähle, die im Abstand von etwa zwei Fuß in einer Reihe in die Erde eingelassen waren. Ich wollte la Gorda fragen, welchem Zweck sie dienten. Mein erster Gedanke war, daß der frühere Besitzer des Hauses hier seine Tiere angebunden hatte. Aber diese Vermutung erschien mir widersinnig, denn der Platz vor dem Haus war so etwas wie eine überdachte Veranda.
Als la Gorda sich links neben mich setzte, mit dem Rücken gegen einen anderen Pfahl, teilte ich ihr meine Vermutung mit. Sie lachte und sagte, daß diese Pflöcke einst tatsächlich dazu gedient hatten, so etwas wie Tiere anzubinden, aber nicht die des früheren Besitzers. Sie selbst hatte, so sagte sie, mühsam die Löcher dafür geschaufelt. »Wozu braucht ihr sie«, fragte ich.
»Nun, sagen wir mal, wir binden uns selbst hier an«, erwiderte sie. »Und dies bringt mich wieder auf etwas, das der Nagual mir auftrug, dir zu sagen. Er sagte nämlich, daß er, weil du leer warst, deine zweite Aufmerksamkeit, deine Aufmerksamkeit für das Nagual, anders sammeln mußte, als er es bei uns machte. Wir sammelten diese Aufmerksamkeit durch das Träumen, du tatst es mit Hilfe seiner Kraftpflanzen. Diese Kraftpflanzen, so sagte der Nagual, versammelten den gefährlichen Teil deiner zweiten Aufmerksamkeit auf einem Haufen, und das ist die Gestalt, die aus deinem Kopf hervorkam. Dies geschieht nämlich, wie er sagte, bei Zauberern, wenn sie Kraftpflanzen einnehmen. Falls sie nicht sterben, wirbeln und formen die Kraftpflanzen ihre zweite Aufmerksamkeit zu jener schrecklichen Gestalt, die aus ihrem Kopf kommt.
Und jetzt kommt das, was er von dir verlangt: Er sagte nämlich, du mußt jetzt deine Richtung ändern und anfangen, deine zweite Aufmerksamkeit auf andere Weise zu sammeln, ähnlich wie wir es tun. Denn du kannst nicht auf dem Weg des Wissens bleiben, solange du nicht deine zweite Aufmerksamkeit ins Gleichgewicht bringst. Bis jetzt wurde diese deine Aufmerksamkeit durch die Kraft des Naguals gestützt, aber jetzt bist du auf dich allein gestellt. Das ist's, was ich dir sagen sollte.«
»Wie kann ich meine zweite Aufmerksamkeit ins Gleichgewicht bringen?«
»Du mußt träumen wie wir es tun. Das Träumen ist die einzige Möglichkeit, die zweite Aufmerksamkeit zu sammeln, ohne sie zu beschädigen, ohne aus ihr etwas Bedrohliches, etwas Furchtbares zu machen. Deine zweite Aufmerksamkeit ist auf die häßliche Seite der Welt fixiert; unsere ist auf ihre Schönheit gerichtet. Du mußt also die Front wechseln und mit uns kommen. Und dafür hast du dich ja gestern abend entschieden, als du bereit warst, bei uns zu bleiben.«
»Könnte diese Gestalt jederzeit aus mir herauskommen?«
»Nein. Der Nagual sagte, sie wird erst dann wieder zum Vorschein kommen, wenn du so alt bist wie er. Dein Nagual ist so oft hervorgetreten, wie es nötig war. Dafür haben der Nagual und Genaro gesorgt. Sie haben es aus dir hervorgelockt. Der Nagual hat mir erzählt, daß du manchmal nur um Haaresbreite dem Tod entgangen bist, weil deine zweite Aufmerksamkeit sehr dazu neigt, sich gehenzulassen. Einmal, sagte er, hast du sogar ihm Angst gemacht; dein Nagual griff ihn an und er mußte ihm etwas vorsingen, um es zu beruhigen. Das Schlimmste aber widerfuhr dir eines Tages in Mexico City; er gab dir einen Stoß, und du stürztest in die Schalterhalle einer Fluggesellschaft, und dort, in der Schalterhalle, gingst du durch den Spalt zwischen den Welten. Der Nagual hatte nur beabsichtigt, deine Aufmerksamkeit vom Tonal abzulenken; du grämtest dich furchtbar über irgendeinen Unsinn. Aber als er dir diesen Stoß gab, schrumpfte dein ganzes Tonal zusammen, und dein ganzes Sein verschwand durch den Spalt. Es kostete ihn höllische Mühe, dich wiederzufinden. Einen Moment meinte er sogar, du wärst so weit gegangen, daß er dich nicht mehr erreichen könnte. Aber dann sah er dich, wie du ziellos durch die Gegend streiftest, und er holte dich zurück. Wie er mir sagte, hast du den Spalt zwischen den Welten gegen zehn Uhr morgens passiert. Zehn Uhr
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