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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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ich ihn nicht in der Weise sah, wie ich normalerweise zu sehen pflegte. Der dunkle Fleck war eher ein flüchtiger Eindruck, so etwas wie eine visuelle Verzerrung. Sobald meine Selbstkontrolle nachließ, verschwand er. Er kam nur dann in mein Gesichtsfeld, wenn ich die vier Handlungen unter Kontrolle hatte. Und dann fiel mir ein, daß Don Juan mich viele Male etwas Ähnliches hatte tun lassen. Dabei hängte er einen Fetzen Stoff ins Gebüsch, und zwar so, daß er sich in gerader Linie mit bestimmten geologischen Gebirgsformationen im Hintergrund befand - etwa einer Schlucht oder Felswand. Dann ließ er mich in etwa zwanzig Meter Entfernung niedersitzen und durch die Zweige der Büsche starren, wo das Tuch hing. Dies löste bei mir einen eigenartigen Wahrnehmungseffekt aus. Das Tuch, das immer eine Spur dunkler war als die geologische Formation, die ich anstarrte, wirkte zuerst wie ein Teil dieser Formation. Der Zweck der Übung war: ich sollte meine Wahrnehmung >spielen< lassen, ohne sie zu analysieren. Dies mißlang mir aber jedesmal, weil ich ganz unfähig war, meine Urteilskraft auszuschalten, und meine Gedanken mündeten stets in irgendwelche rationalen Spekulationen über Einzelheiten meiner Wahrnehmungstäuschung.
    Diesmal aber war ich zu keinerlei Spekulationen aufgelegt. La Gorda war keine so imposante Figur, die ich unbewußt bekämpfen zu müssen meinte, wie Don Juan es für mich offensichtlich gewesen war.
    Der dunkle Fleck in meinem Gesichtsfeld wurde jetzt beinah schwarz. Ich lehnte mich gegen la Gordas Schulter, um es sie wissen zu lassen. Sie flüsterte mir ins Ohr, ich solle mich anstrengen, meine Augenlider in der Stellung zu halten, in der sie waren, und ganz ruhig aus dem Bauch heraus atmen. Ich sollte mich von dem Fleck nicht anziehen lassen, sondern allmählich - wie beim Zoom - auf ihn zugehen. Dadurch sollte ich vermeiden, daß das Loch wuchs und mich plötzlich verschlang. Falls dies aber doch geschähe, sollte ich sofort die Augen öffnen. Ich fing an zu atmen, wie sie es mir empfohlen hatte, und dadurch gelang es mir, meine Augenlider unbegrenzt lange in der richtigen Stellung zu halten.
    In dieser Haltung verharrte ich eine ganze Weile. Dann bemerkte ich, daß ich inzwischen wieder normal atmete und daß dies meine Wahrnehmung jenes dunklen Fleckens nicht beeinträchtigte. Aber plötzlich fing der dunkle Fleck an sich zu bewegen, er pulsierte, und bevor ich wieder ruhig durchatmen konnte, huschte die Schwärze auf mich zu und hüllte mich ein. Ich geriet in Panik und öffnete die Augen.
    La Gorda erklärte mir, was ich da tat, sei das In-die-Ferne-Gaffen, und dabei müsse ich unbedingt so atmen, wie sie es mir empfohlen hatte. Sie drängte mich, es noch einmal zu versuchen. Sie sagte, der Nagual habe sie alle gezwungen, tagelang dazusitzen und im Gaffen auf diese Stelle ihre zweite Aufmerksamkeit abzurunden. Und er habe sie immer wieder vor der Gefahr gewarnt, durch den Schock, den der Körper erlitt, verschlungen zu werden.
    Ich mußte etwa eine Stunde spähen, bis ich tun konnte, was sie mich geheißen hatte. Auf die braune Stelle loszuzoomen und sie so anzugaffen bedeutete, daß dieser dunkle Fleck in meinem Gesichtsfeld sich ganz plötzlich aufhellte. Als dies mir klar wurde, erkannte ich, daß irgend etwas in mir etwas Unmögliches vollbrachte: ich hatte das Gefühl, mich tatsächlich diesem Fleck zu nähern; daher mein Eindruck, daß er heller wurde. Dann war ich so nah, daß ich einzelne Merkmale wie Steine und Pflanzen unterscheiden konnte. Ich kam noch näher und entdeckte ein seltsames Steingebilde. Es sah aus wie ein roh gezimmerter Stuhl.
    Es gefiel mir sehr gut; im Vergleich dazu wirkten die übrigen Steine blaß und uninteressant. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich diesen Stein angaffte. Ich konnte jede Einzelheit fixieren. Ich hatte das Gefühl, ich könnte mich für immer in diese Details vertiefen, denn es waren unzählige. Dann aber verflüchtigte sich das Bild; ein anderes seltsames Bild überlagerte den Stein, und dann noch eines und noch eines. Ich ärgerte mich über die Störung. Im gleichen Augenblick, als ich mich ärgerte, merkte ich auch, daß la Gorda von hinten meinen Kopf gepackt hatte und ihn hin und her bewegte. Binnen Sekunden löste sich meine Konzentration, mit der ich gegafft hatte, völlig auf. La Gorda lachte und sagte, jetzt verstünde sie, wieso ich dem Nagual solche Sorgen gemacht hatte; sie habe eben selbst gesehen, daß ich mich grenzenlos

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