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Don Juan de la Mancha

Don Juan de la Mancha

Titel: Don Juan de la Mancha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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statistische Lebenserwartung von noch siebenundzwanzig Jahren, beruflich noch maximal dreizehn Jahre bis zur Alteisendeponie. Keine Kinder. Aber er redet über ein Jahrtausend. Ich misstraue sogenannten Entscheidungsträgern, die in Jahrtausenden denken. Es ist unerträglich. Es wäre unerheblich. Wir gehen essen – eine Gruppe von Freunden. Christa geht aufs Klo, eine Minute später gehe ich aufs Klo. Damen. Die Tür ist angelehnt. Christa sitzt auf der Klomuschel, ich stelle mich vor sie, sie nimmt meinen Schwanz in den Mund. Wie das klingt. Es gibt keine Worte, um diesen Irrsinn mit Würde zu beschreiben. Nur ganz kurz. Es ist kein Akt. Nur eine Szene. Sie macht drei Mal schlupp, und schon muss ich wieder einpacken. Es ging nicht um das Vergnügen, es zu tun, sondern um das Vergnügen, dann bei Tisch zu wissen, dass wir es getan haben. Christa grinst. Inzwischen reden Georg und die anderen über Wettbewerb. Christa geht zurück, eine Minute später ich. Sie würde Georg nie verlassen.
    5.
    Für das Glück, das man nicht hat, gibt es viele Metaphern. Zum Beispiel Trauben. Wir hatten heute keinen Aufmacher. Natürlich haben wir immer genug geschobene Artikel, die jederzeit als Aufmacher herhalten können, aber Franz fand keine der Möglichkeiten geil. Er blies daher eine kurze Agenturmeldung auf, die davon berichtete, dass Traubenkerne besonders potente »Radikalenfänger« seien. Das habe eine neue amerikanische Studie herausgefunden. Sogenannte Freie Radikale – Franz googelte und erklärte, was das ist: »Moleküle, denen ein Elektron fehlt und die sich dieses Teil gewaltsam von einem anderen Molekül holen, das es aber selbst noch gebraucht hätte« – führen zu vorzeitigem Altern und verkürzen daher die Lebenserwartung. Da das Zigarettenrauchen eine regelrechte Explosion Freier Radikaler im Organismus auslöse, sollten vor allem starke Raucher viel Trauben essen, deren Kerne sich als die besten Antioxidantien herausgestellt hätten. Die Kerne! Man solle sie daher nicht ausspucken, sondern schlucken. Diesen Artikel illustrierte Franz mit dem Archivfoto einer Trauben essenden Bikinischönheit. Anders als Franz nehme ich das Zeitungmachen nicht mehr ernst. Auch wenn ich manchmal sogar glaube, was wir schreiben. Ich schickte Traude, meine Sekretärin, in den nächsten Supermarkt um Trauben, rauchte und beantwortete einige E-Mails. Die Trauben, die Traude schließlich brachte und gewaschen in einer Schüssel auf meinen Tisch stellte, waren kernlos.
    Das Ressort der Zeitung, für das ich verantwortlich bin, heißt »Leben«.
    6.
    Ich schreibe kaum noch. Ich gebe im Ressort die Richtung vor. Aber die wäre auch vorgegeben, wenn ich nicht einmal mehr nickte. Manchmal redigiere ich Artikel. Dabei muss ich allerdings äußerst vorsichtig sein. Denn jeder Versuch, aus schlechtem Deutsch etwas weniger schlechtes Deutsch zu machen, oder gar aus einer Phrase einen Satz, löst bei den Mitarbeitern Aggressionen aus: Sie halten gutes Deutsch für schlechten Journalismus. Franz zum Beispiel liebt diese blöden »gibt-sich-Sätze«. Er hält sie für Stil. Auf jedes wörtliche Zitat folgt nicht ein »sagte er« oder »sagte sie«, sondern ein »gibt sich« plus Name plus Adverb. »›Die neue Anti-Aging-Gesichtscreme von Revlon ist die erste mit wissenschaftlich nachweisbarem Effekt‹, gibt sich Revlon-Presse-Lady Agnes Schönborn überzeugt.« Oder »›Die Therme Obertuschl setzt neue Maßstäbe im Wellness-Tourismus‹, gibt sich Kurdirektor Unterpointner euphorisch.« Ich lese das und gebe mich zufrieden. Zumal ich jetzt doch wieder selbst zu schreiben begonnen habe.
    Schreiben Sie, Nathan!, hat Hannah, also Frau Dr. Singer, meine Therapeutin, gesagt, schreiben Sie alles auf! Eine Reportage über die Reise, die Sie zu diesem Punkt gebracht hat, dass Sie keine Lust empfinden. Damit können wir dann arbeiten!
    Eine Autobiographie?
    Nein. Eine Reportage. Das können Sie. Stellen Sie sich vor, Sie müssen eine Reportage über die Schengen-Grenze schreiben, ein Leben an der Grenze. Tote Hose. Leben hart am Niemandsland. Wohlgeordnet, aber doch irgendwie bedroht. Weil das andere so nahe ist. Soldaten mit Nachtsichtgeräten patrouillieren mit scharfen Hunden, die darauf trainiert sind, Fremde zu wittern, die da eindringen wollen. Und jetzt ersetzen Sie Schengen durch Lust. Diese Reportage will ich von Ihnen lesen, Nathan!
    Das hat alles sehr früh begonnen – aber ich möchte jetzt wirklich nicht meine Kindheit durcharbeiten.

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