Don Juan de la Mancha
sie. Sie lächelte eigentümlich ironisch, als sie meinen Mantel nahm und aufhängte. Es ist noch früh, sagte ich, und: Wenn nur einer kommt, dann ist er die Masse. Und auf jeden Fall kommt noch meine Frau.
Es kamen der Rektor und der Dekan, der Philosophieprofessor Benedikt, bei dem ich als Student eine Kant-Vorlesung gehört hatte, dann kam Franz, nach und nach kamen noch vier ehemalige Bettauer. Wir standen beisammen, redeten, waren fassungslos. Dieser berühmte Philosoph! Und da kam kein Philosophiestudent, keine Medien. Nur die Vertreter der Uni-Bürokratie und ein Fähnlein der letzten aufrechten Veteranen. Dann kam Alfred Sohn-Rethel mit seiner Frau, der Buchhändlerin und Verlegerin Bettina Wassmann. Frau Wassmann schleppte einen Karton mit Büchern, die sie auf dem Garderobetisch auspackte und auflegte. Ungerührt legte sie Buchstapel auf den Tisch, als erwartete sie in letzter Sekunde die Massen. Ich kaufte ein Exemplar der »Erstbesteigung des Vesuv«.
Wir warten noch fünf Minuten, sagte der Dekan.
Fünf Minuten starrten wir auf die Tür, ob sie noch einmal aufginge.
Darf ich bitten, sagte der Dekan.
Es war nicht exakt die Situation, die man sich erträumt, wenn man sein Glück machen will.
Nichts ist leerer als ein leerer Vortragssaal. Die zehn Hörer verteilten sich in den Reihen. Bis auf Rektor, Dekan und Frau Wassmann wollte keiner in der ersten Reihe sitzen. Sohn-Rethel begann seinen Vortrag mit der Bitte, dass alle nach vorn kommen und sich in die erste Reihe setzen mögen. Es würde unser Leben und sein Überleben erleichtern. Ich ging nach vorn, setzte mich auf den ersten Stuhl ganz außen. Plötzlich saß die Garderobefrau neben mir. Hallo Masse, sagte sie.
Nach dem Vortrag ging ich zu Sohn-Rethel, um ihn um eine Signatur zu bitten.
Ich weiß, es ist kindisch, sagte ich. Ich mache das normalerweise nicht. Aber in Ihrem Fall –
Geben Sie schon her!
Neben mir die Garderobefrau, auch mit einem Buch in der Hand. Dahinter Franz mit einem Buch. Sohn-Rethel nahm mein Buch und schrieb. Er konnte nicht mehr schreiben. Er konnte kaum den Kugelschreiber halten. Er setzte an. Er zitterte. A schrieb er, dann zitternd das l, er setzte ab, atmete durch, das f, es war furchtbar, ich schämte mich, ich hasste mich dafür, diesen großen alten Mann in diese Situation gebracht zu haben. Er konnte keinen geraden Strich mehr ziehen, er peckte Pünktchen und Strichlein hin, die nun das r ergaben, der Kugelschreiber zitterte, und das Buch vibrierte, weil auch die linke Hand zitterte, mit der er das Buch niederdrückte. Das e. Sein Name ist zu lang, dachte ich, das steht er nicht durch. Ich sah hilflos zur Seite. Sah der Garderobefrau ins Gesicht. Sie hatte nasse Augen. Sie schluckte. Sie klappte das Buch zu und ging. Franz. Er nickte mir zu, trat einen Schritt zurück, ging weg. Jetzt wusste ich, was Ewigkeit ist.
Ich holte meinen Mantel.
Ihre Frau ist doch nicht gekommen!
Doch, sagte ich. Sie. Sie sind meine Frau.
Es war der letzte Vortrag, den Alfred Sohn-Rethel gehalten hatte. Er starb ein halbes Jahr später, im April 1990. Sohn-Rethel sah nicht aus wie Eleonor Roosevelt, wenn Sie verstehen, was ich meine, Hannah. Wer kann sich heute etwas vorstellen, wenn er diesen Namen hört? Warum also das erzählen? Wegen dieser seltsamen Magie: Im April 1990 heiratete ich Beate, die »Garderobefrau«.
74.
Ad mortem festinamus. Beate war keine Garderobefrau. Sie war die Erste am Veranstaltungsort gewesen (»Ich wollte mir einen guten Platz sichern!«) und hatte sich zum Warten auf den einzigen Stuhl im Vorraum des Festsaals gesetzt, und das war der Stuhl hinter dem Garderobetisch. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Na und? Das Schwierige ist ohnehin der vierte, fünfte, hundertste Blick. Es war bezeichnend, dass ich nicht einmal sofort erkannt hatte, dass sie viel zu edel gekleidet war, um eine Garderobefrau zu sein. Ich hatte ihre Jacke mit den ungesäumten Ärmeln und den aufgesteppten Taschen für etwas billig Selbstgemachtes gehalten. Sie arbeitete in der Österreich-Niederlassung von Inditex im Marketing.
Was ist Inditex?
Ein Modekonzern, sagte sie, die bekannteste Marke ist ZARA.
Also bist du doch irgendwie eine Garderobefrau.
Das war nicht so gut. Ich fragte sie, warum sie zu dem Vortrag eines Philosophen gekommen sei. Ich sagte nur »Philosoph«, und nicht »Sohn-Rethel«, als könnte der Name sie überfordern und sie müsste nachfragen, wie man ihn schreibt. Ich war nicht bei Sinnen.
Ich
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