Donner: Die Chroniken von Hara 3
Mittag tauchten im Norden flachere, aus der Entfernung kaum zu erkennende Grabhügel auf. Angst jagten sie mir aber nicht ein. Warum auch? Wenn die Toten uns hätten verschmausen wollen, dann hätten sie das längst getan, und zwar gleich auf Lepras Anwesen, unmittelbar nach ihrem Tod.
»Hör mal, Shen, als ich Thia erledigt habe …«
»Du meinst, beinahe erledigt hättest«, stellte er klar.
»Von mir aus auch das. Damals haben sich doch zahllose Tote aus ihren Gräbern erhoben, nicht wahr? Zum Beispiel in der Dabber Glatze.«
»Mhm. Das geschieht immer, wenn ein dunkler Funke erlischt.«
»Warum ist das dann nach Lepras Tod ausgeblieben?«
»Weil der Funkentöter all ihr Dunkel bis auf den letzten Rest aufgenommen hat. Deshalb hat es bloß geregnet.«
Etwas an dieser Erklärung störte mich, sodass ich weiter über das Problem nachdachte. Als Shen mein Schweigen auffiel, wollte er wissen, worüber ich grübelte.
»Da passt was nicht zusammen. Lahen verfügte schließlich auch über den dunklen Funken.«
»Lahen war doch keine Verdammte, die diesen Aspekt der Gabe seit Jahrhunderten praktizierte«, sagte er. »Ihr Tod konnte gar nicht diese Folgen haben. Sonst bräuchte ja nur irgendein Nekromant zu sterben, und es würden … Was verziehst du jetzt schon wieder das Gesicht?«
»Lahen hat mir erzählt, es komme auch nach dem Tod von jemandem, der nicht schon Jahrhunderte gelebt hat, zu einem solchen Ausbruch von Kraft.«
»Vermisst du die Untoten etwa?«, stichelte er. »Ich weiß einfach nicht, wie das alles zusammenhängt, und damit Schluss! Genügt dir diese Antwort?«
Die nächste Stunde setzten wir unseren Weg schweigend fort. Abermals bezog sich der Himmel, sodass ich mich fest in den Umhang hüllte. Gegen Abend würde es bestimmt wieder in Strömen regnen. Ich überließ Shen die Zügel und kletterte kurz nach hinten in den Wagen. Rona hatte sich eingerollt und schlief, wobei sie leise seufzte. Ich nahm den Bogen an mich und kehrte damit auf den Kutschbock zurück.
»Sie schläft«, antwortete ich auf Shens unausgesprochene Frage.
All meine Waffen hatte ich auf dem Anwesen Lepras eingebüßt. Vor allem um mein Wurfbeil tat es mir entsetzlich leid. Es hatte mich bereits durch den Krieg im Sandoner Wald begleitet. Nachdem dieser vermaledeite Hamsy es mir abgenommen hatte, war ihm nichts Besseres eingefallen, als es in schwarzen Staub zu verwandeln. Nicht einmal meinem Bogen trauerte ich in dieser Weise nach, obwohl mir der Kerl den ebenfalls verbrannt hatte. Doch für ihn hatte ich immerhin Ersatz gefunden, nachdem ich mich gründlich in der Waffenkammer des adligen Herrn jenes Anwesens umgesehen hatte.
Der Bogen aus Eibenholz war fast zwei Yard lang und außerordentlich schwer, ein wahres Monstrum also. Allein ihn zu spannen, setzte eine gewisse Erfahrung voraus – und enorme Kräfte. Dafür stünde mir mit ihm in einem Kampf auch gleich eine gute Schlagwaffe zur Verfügung. Sollte ich vor Wut schäumen, könnte ich mit ihm vermutlich sogar eine der Verdammten erledigen.
Bevor ich mich für den Bogen entschieden hatte, hatte ich mir das Holz genau angesehen. Die Waffe war bisher kaum benutzt worden. Folglich lief ich kaum Gefahr, mitten im Kampf mit zwei Teilen in der Hand dazustehen. Bei einem derart unhandlichen Stück verbot sich jeder Gedanke an eine weitere schwere Waffe, mit der ich meinen Feind gegebenenfalls in die Glücklichen Gärten schicken konnte, natürlich von selbst. Deshalb vervollständigte ich meine Ausrüstung nur noch mit einem langen Messer in einer schlichten Lederscheide.
Die Zahl der Pfeile im Köcher hielt ich vorsichtshalber auch klein: Bei mehr als zwölf würde ich nach kurzer Zeit sowieso ins Schwitzen geraten. Für ihre Auswahl aber ließ ich mir Zeit. Insgesamt hatte ich zwar mehr als hundert Pfeile entdeckt, doch infrage kamen für mich überhaupt nur vierundzwanzig.
Da mir dieser Bogen völlig unvertraut war, musste ich zunächst ein Gefühl für ihn entwickeln. Deshalb suchte ich mir jeden Abend ein Ziel und übte mich bis zur völligen Erschöpfung im Schießen, damit ich mit meinem neuen Gefährten bald auf Du und Du stünde.
»Mir jagt dieses Monstrum Angst ein«, gestand Shen.
»Das kann ich nur begrüßen«, erwiderte ich. »Denn dann werden es sich auch alle anderen zweimal überlegen, bevor sie sich mit mir anlegen.«
»An deiner Stelle würde ich mich aber nicht darauf verlassen, dass er dir sämtliche Schwierigkeiten vom Hals
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