Doppelte Schuld
dennoch nicht wie Touristen wirkten. Mary war sich mittlerweile sicher, daß sie gestern verfolgt worden war. Der Mann in den Wanderhosen, zweimal war er ihr begegnet. Sie senkte den Löffel in den Obstsalat. Man brauchte keine Paranoia, um die Situation unübersichtlich zu finden.
Das Telefon klingelte, Frau Willke entschuldigte sich und eilte hinaus. Nach fünf Minuten kam sie zurück. Der alte Herr war gegangen, Agnes hatte abgeräumt, und Frau Willke, die aussah, als ob sie Lust auf ein Schwätzchen hätte, setzte sich zu Mary, dem letzten Gast im Speisesaal.
»Ist denn Ihr Hund ein Blindenhund? Ein echter? Ich meine, weil Sie doch gar nicht …« Frau Willke, die Lux tätschelte, tat verlegen.
»Ich bin nicht blind, das ist richtig. Ich bilde die Hunde aus und arbeite dabei gerne unter realistischen Bedingungen.« Das genügte den meisten Leuten als Erklärung.
»Und was wird aus dem Hund, wenn er fertig ist mit der Ausbildung?«
»Ich muß ihn abgeben.« In die Hände eines kalten Mannes, dachte Mary. Sie hatte Ernst Kellerhoff getroffen, bevor sie den Hund auswählte, der ihn künftig führen sollte. Seine Labradorhündin war nicht mehr die Jüngste, er suchte rechtzeitig nach Ersatz, und er hatte über einen anderen Kunden von Mary Nowak gehört.
»Sie sind gut, hat man mir gesagt.« Er sprach bestimmt und artikuliert und hielt sich sehr gerade. Seine Führhündin behandelte er ruhig und korrekt. Daß es ihm an Liebe fehlte, war nichts Schlimmes. Und dennoch störte es sie – ebenso wie die Tatsache, daß er offenbar Geld wie Heu hatte. Aber das allein macht auch nicht gesund. Viele Ursachen für Erblindung konnte man heutzutage ausschalten, vieles war heilbar. Aber nicht »beidseitige Amaurose« – das war Kellerhoffs kurze, knappe Antwort gewesen. »Angeboren?« hatte sie gefragt. »Nein.« Als ob das eine Frage zuviel gewesen wäre.
»Ich brauche Qualität. Absolute Zuverlässigkeit. Können Sie das garantieren?«
»Hunde sind lebende Wesen. Garantieren kann man gar nichts. Aber ich hätte da etwas für Sie.« Lux. Eine Schäferhündin, die schon als Welpe alle Eigenschaften zeigte, die ein Blindenführhund braucht: Sie apportierte mit Wonne Zeitung, Schlüsselbund, Portemonnaie und Brillenetui. Sie war offen und entspannt, friedfertig, intelligent, ausdauernd. Der Züchter hatte ihr von dem Junghund vorgeschwärmt.
In der Ausbildung bestätigte sich das. Nun war es bald soweit. Ernst Kellerhoff hatte schon ungeduldig angerufen. Er würde seine Labradorhündin sofort weggeben – »in gute Hände«, wie er immerhin betonte –, sobald es Ersatz gab. Auch das gefiel ihr nicht. Ein Blindenführhund ist kein Navigationscomputer, sondern ein empfindsames Tier, das die Liebe eines Menschen braucht. Und außerdem … Nicht angeborene beidseitige Amaurose war selten, äußere Verletzungen beschädigen nicht eben häufig gleich beide Sehnerven. Bei einer Vergiftung wäre das plausibler. Ein Blick in Kellerhoffs Gesicht, und sie wußte, daß sie ihm diese Frage nie stellen würde.
»Aber …« Frau Willke schüttelte den Kopf. »Fällt Ihnen das nicht schwer? Ich meine – Sie und der Hund wirken so – wie soll ich sagen …«
»Mir sollte es nicht schwerfallen.« Mary setzte die Kaffeetasse ab und betupfte sich mit der Serviette die Lippen. Das war ja das Problem. »Aber Lux ist wirklich etwas Besonderes.«
»Und …« Die Willke beugte sich vor. »Wie kommt man dazu, solche Hunde auszubilden? Ich meine …«
Wie kommt man dazu? Wie die Jungfrau zum Kind. Wenn einem die Tage zu lang werden als Mrs Frank T. Delight im Mulberry Cottage in St Peter’s Close in Bovey Tracey. Wenn die Rosen geschnitten sind und der Rasen gemäht ist und man nicht täglich Golf spielen gehen will. Wenn man glaubt, etwas Nützliches tun zu müssen, weil man ganz unverdienterweise in der Idylle lebt.
»Zufall«, sagte sie. »Ein Freund von einem Freund. Und da man damit helfen kann …«
Frau Willke nickte. Helfen ist immer gut. »Ist das nicht teuer, so ein Blindenhund? Wie lange muß der denn dressiert werden?«
»Er wird nicht dressiert.« Frau Willke zog den Kopf erschrocken zurück, Marys Stimme mußte schärfer geklungen haben, als sie beabsichtigt hatte. Sie lächelte beschwichtigend. »Lux ist intelligent und lernfähig. Kürzlich im Kaufhaus habe ich ihr den Befehl gegeben, die Treppe zu suchen, und das schlaue Tier bringt mich vor den Aufzug. Das kann kein bloß dressierter Hund. Aber eine gute Ausbildung
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