Doppelte Schuld
Aber der Kleine brauchte Kleidung und Essen, und sie brauchte den Job.
Sie bekam ihn.
Im nachhinein erschien ihr das alles wie ein Wunder. Wie ein bunter Strauß von Unwahrscheinlichkeiten: daß man sie nicht wieder feuerte, als herauskam, wie wenig Ahnung sie von Büroarbeit hatte. Daß sie sich beim Schreibmaschineschreiben unerwartet geschickt anstellte. Daß sie schon nach zwei Monaten die persönliche Assistentin des Mannes wurde, der die Bildungsabteilung der Besatzer leitete und zuständig war für Konzerte, Bücher, Zeitungen: Henry Nowak. Daß sie abends immer später nach Hause kam, erschöpft, aber voller Lebensfreude. In der polnischen Stadt mitten im Emsland gab es Feste und Feiern, Theater und Bücher und Musik. Der Bedarf war groß bei den vielen polnischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, Männern und Frauen, die aus den Lagern entlassen worden waren.
Der Kleine bekam sie wenig zu sehen, aber er kriegte genug zu essen. Und er war in guten Händen.
Henry Nowak. Das geliebte, vertraute Gesicht. Anfangs so schmal, so hart, so streng. Und zum Schluß … Mary schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Wein. Ein einziges Mal noch an den Anfang denken, dachte sie. Einmal nicht den Verlust spüren.
Marie hatte einen Job gesucht, an diesem kalten Februartag im Winter 1946. Statt dessen fand sie ihr Schicksal.
Wodkaflaschen, ganze Batterien. Überquellende Aschenbecher. Sie lernte trinken – und wie sie trinken konnten, die Polen, auch Henry, wenn er gute Laune hatte. Sie gewöhnte sich das Rauchen an, Marek, ein junger, bei ihrem Anblick stets verlegen errötender Fahrer, hatte ihr eine ganze Stange englische Zigaretten geschenkt. »Benson & Hedges, das rauchen die Offiziere«, hatte der Bursche gesagt. Er selbst rauchte Players. Daß er sie für was Besseres hielt, hatte sie gerührt, es paßte so gar nicht zu ihr oder in die Zeit.
Sie stellte sich ungeschickt an beim Rauchen. Fast so ungeschickt wie Tilla, die lieblos auf der Kappel herumhackte. Tilla erledigte jetzt alle Tipparbeiten, sie beklagte sich nicht, Tilla mit der unerschütterlich guten Laune, den vielen Sommersprossen und den drei Kindern, die sie abends abholten. Tilla war Anfang dreißig und Witwe und bekam ihr Parfüm von einem polnischen Fallschirmspringer mitgebracht.
»Woher kommen Sie?« Das war seit drei Monaten die erste persönliche Frage gewesen, die Henry ihr stellte. Henry selbst hatte nie über sich gesprochen und über seine Familie, sie wußte nicht, ob er verheiratet war und wo seine Eltern lebten.
»Aus Jechow. Ostpreußen.«
Er nickte, als ob sie Schicksalsgenossen wären. Sie konnte nicht zurück, genausowenig wie er. Für das sowjetisch beherrschte Volkspolen gehörten die Soldaten der polnischen Exilarmee zu den Verrätern, denen der Tod drohte, sollten sie zurückkehren.
Mary sah den Flugzeugen zu, die silberne Furchen in den Himmel über Schloß Blanckenburg schnitten. Damals hatte sie das erste Mal gespürt, daß sie ihn vermissen würde, den dunklen, ernsten Mann mit den schmalen Fingern, der nie lächelte. Aber dann hatte er gelächelt, irgendwann. Damit fing es an. Mit einem Lächeln.
Eine kühle Brise schüttelte die Zweige der beiden großen Eichen vor dem Haus. Von der Terrasse her hörte sie Teller klappern und Agnes lachen. Sie mußte etwas essen. Aber die Erinnerung machte ihr wenig Appetit.
Der Teller. Das Stück Fleisch bedeckte ihn fast. Sie hatte so etwas seit Jahren nicht mehr gesehen. Henry hatte sie eingeladen, das erste Mal, und sie konnte nichts essen. Noch war sie nicht daran gewöhnt, daß es zu essen gab, wichtiger war, daß der Kleine nicht hungerte und ihr Vater bei Kräften blieb. Sie mußte die Hälfte zurückgehen lassen und hatte tagelang Schuldgefühle deswegen. Aber sie war zu stolz gewesen, um sich die Reste einpacken zu lassen.
Henry Nowak hatte sie nach einem gemeinsamen Besuch einer Filmvorführung zum Essen ausgeführt. An den Film erinnerte sie sich nicht, wohl aber daran, daß sie das erste Mal seit Monaten wieder ein Kleid angezogen hatte, Tilla hatte es ihr genäht, für Kartoffeln und einige Gläser Eingemachtes. Henry und sie unterhielten sich so angeregt, daß die Flasche Wein noch halb leer war, als der Kellner bereits unruhig in der Eingangstür stand, weil man zumachen wollte. Sie redeten und redeten auf der Fahrt zurück. Er roch nach Zigarillos und nach etwas anderem, ein süßer, schwerer Duft, den sie nicht kannte.
Sie hörten nicht
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