Doppelte Schuld
Hotelparkplatz stand leer, die Gäste schienen abgereist zu sein, als ob alle auf einmal beschlossen hätten, daß der Sommer vorbei war.
Der Himmel hatte sich zugezogen. Eine Windbö packte sie von vorne, und über dem Schloß ballten sich dunkle Wolken. Sie drehte mit Lux eine Runde und beeilte sich, wieder ins Hotel zu kommen.
»Machen Sie mir bitte die Rechnung?«
Jetzt blickte Carlo auf. Zum ersten Mal sah sie ihn gründlicher an. Du leidest an Verfolgungswahn, dachte sie. Aber er hatte das richtige Alter. Ende vierzig. Dunkle Schatten unter den Augen. Blasses Gesicht.
»Ich bin hier nur …«
»… die Vertretung, ich weiß. Aber ich muß weg, und zwar schnell.«
Carlo starrte sie an, als ob ihr Wunsch ihn völlig überforderte.
»In einer halben Stunde. Länger kann ich nicht warten.« Mary drehte sich um und ging hinter Lux die Treppe hoch.
Kaum hatte sie das Zimmer betreten, stieg ihr der vertraute Duft in die Nase. Er hing im Raum, als ob ihn jemand frisch versprüht hätte. Sie war es nicht gewesen, nicht heute früh. Es mußte jemand im Zimmer gewesen sein, der ihr Parfüm benutzt hatte.
Mit ein paar Schritten war Mary im Bad. Alles sah so aus wie immer, aber die Flasche Vol de Nuit stand ein wenig schräg, so daß das Bild des langsam zum Stillstand kommenden Propellers auf dem Flakon nach rechts zeigte. Sie hob die Flasche gegen das Licht. Es fehlte mindestens ein Fingerbreit. Merde. Zurück im Zimmer, öffnete sie den Kleiderschrank. Jemand war an ihren Sachen gewesen, man sah es kaum, das war Profiarbeit.
Sie mußte ewig dagestanden und vor sich hingestarrt haben, bis sie Lux in der Zimmerecke neben dem Freßnapf stehen und langsam, aber erwartungsvoll mit dem Schweif wedeln sah. »Mein armes Mädchen«, sagte sie und griff nach der Tüte Cracker. Der Schweif wedelte schneller. »Du mußt ja ganz ausgehungert sein.«
Sie sah dem Hund eine Weile beim Fressen zu. Dann holte sie den Koffer aus dem Schrank und legte ihn aufs Bett. Der Mann an der Rezeption. Carlo – »Ich bin hier nur die Vertretung«. Sie kannte den Typus, und es würde sie überraschen, wenn er sich in den letzten achtzehn Jahren nach der Wende noch wesentlich verändert hätte. Sie waren alle gleich farblos und gleich leblos, die Herren des Morgengrauens, die alten Kader der Stasi, die überwinterten, als ob sie wiederkommen würden, die besseren Zeiten.
Sie gab sich keine Mühe mit dem Packen, das meiste war bügelfrei, und zu Hause gab es einen geräumigen Kleiderschrank, aus dem sie auswählen konnte. Sie dachte an warme Herbstfarben und wärmende Stoffe, an Rotwein, Schach und Karls Pfeifentabak, während sie den Schrank und die Kommode ausräumte. Der Koffer ließ sich kaum schließen, er schien schwerer geworden zu sein. Aber er hatte Räder, und außerdem würde sie ein Taxi nehmen zum Bahnhof. Sie hatte es plötzlich eilig.
Lux ließ sich anstecken von ihrer Laune, der Hund tanzte um sie herum, als ob er sechs Monate alt wäre, verschleppte ihre Haarbürste und apportierte statt dessen eines von Frau Willkes zierlichen Sesselkissen.
Vor der offenen Balkontür bauschte sich der Vorhang. Sie trat ein letztes Mal hinaus. Das Schloß lag im Schatten der Gewitterfront. Warum nur hast du daran gerührt, Gregor, du Idiot, dachte sie. Warum hast du mir nicht meine Erinnerungen gelassen.
Hatte er denn nicht gewußt, was er mit seiner Suche nach ihr alles auslöste?
Aber wie sollte er. Er konnte gar nicht wissen, daß sie unter ihrem alten Namen verschwunden war für die Welt und daß es dafür viele Gründe gab. Benny mußte sie gesucht haben, um sie zu warnen. Aber das hatte ihn das Leben gekostet. Hoffte der Gegner, sie mit Bennys Tod aus der Reserve zu locken? Wahrscheinlich. Aber er hatte nicht mit der zunehmenden Sturheit älterer Leute gerechnet. Sie ließ sich nicht herausfordern.
No way.
Sie schloß die Balkontür und rief in der Rezeption an. Sie benötigte ein Taxi und Hilfe beim Koffertragen konnte sie auch gebrauchen. Niemand hob ab.
Ein letzter Blick. Diesmal hatte sie hoffentlich nichts vergessen. Dann zog sie die Zimmertür zu. Sie ließ den Koffer Stufe für Stufe hinter sich die Treppe herunterpoltern. Es war unhöflich, aber nicht zu überhören. Doch Carlo war nicht mehr da.
»Sie wollen uns doch wohl nicht verlassen!« Frau Willke hatte die Augen weit aufgerissen und ging mit ausgestreckten Händen auf sie zu. »Gerade jetzt!«
Warum nicht jetzt, dachte Mary und lächelte die Frau milde an. Und
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