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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Hände der Mutter, der Großmutter, der Urgroßmutter berührt hätten.
    Im Schlafzimmer der Eltern hatte damals ein riesiger Kleiderschrank gestanden. Er war das Tor zu einer anderen Welt gewesen: Immer wenn sie die Tür öffnete, die ein Geräusch machte, das manchmal wie eine Klage klang und manchmal wie ein spöttischer Poltergeist – immer wenn die Tür offenstand, stellte sie sich die Hand einer ihrer Vorfahren vor, die hineingriff und ein Kleid hervorholte: ein Festtagskleid. Ein Hauskleid. Ein Trauerkleid.
    Und dann … April 1945. Das Gutshaus im Oderbruch, Hunderte von Kilometern entfernt von Jechow. Fedor und die Meute der Rotarmisten, der Stall, einer spuckte ihr ins Gesicht, danach.
    Vorbei.
    Die Hand des Kleinen, die ein Stoffhäschen umklammerte. Seine ruhigen Atemzüge, während er schlief. Die langen Wimpern auf den hellen Wangen.
    Die Hände ihres Vaters, rauh und aufgesprungen. Friedrich und Amelie, beide lächelnd, sie hatte sie nie anders gesehen.
    Und wieder Henry. Das Sofa. Grüner Samt, abgewetzt. Die Sprungfedern müde. Die bestickten Prunkkissen rochen nach dem letzten Jahrhundert und kaltem Ofenrauch. Seiner Pensionswirtin war sie einmal abends auf dem Flur begegnet. Das Gesicht würde sie nie vergessen. Es buchstabierte »Flittchen«.
    Henry kam nie zu ihr nach Hause. Henry machte ihr nie einen Antrag. Henry machte sich Vorwürfe, daß er in ihr die Frau sah und nicht nur den Kameraden. Henry hatte Angst, sie zu verletzen, »es muß schrecklich für dich gewesen sein, die Sache mit diesem Fedor. Dem Major. Und dann, danach …« Sie schwieg dazu. Was hätte sie sagen sollen? Daß sie glücklich war, überlebt zu haben, was ja nicht allen Frauen zuteil wurde, die damals in die Hände der siegreichen Roten Armee fielen?
    Was Henry bewegte, war längst nicht mehr der Kampf gegen Nazideutschland, dem er sich als Mitglied der polnischen Armee im britischen Exil angeschlossen hatte. Sein Feind war ein anderer.
    Das Bild, das auf seinem Schreibtisch stand. Neben dem Stück verbogenem Blech. Das Blech stammte von einer Spitfire, erfuhr sie später. Von einem der kleinen einsitzigen britischen Jagdbomber. Nicht von dem, in dem Henry gesessen hatte, als er abgeschossen wurde über dem Ärmelkanal, natürlich nicht. Henry hatte sich mit dem Fallschirm gerettet, was so unwahrscheinlich war, daß man es Glück nennen mußte. Die polnischen Flieger, die sich der britischen Armee im Kampf gegen Hitlerdeutschland angeschlossen hatten, rühmten sich der höchsten Todesrate. Was hatten sie auch zu verlieren? Nichts, sagte Henry, weil alles schon verloren war.
    Es war das Bild, das sie nicht verstand. Es zeigte einen Mann mit buschigen Augenbrauen und hoher Stirn, das Haar wie eine Löwenmähne nach hinten gekämmt. Die Nase war breit, darunter ein mächtiger Schnurrbart, ein Seehundbart. Der Blick des Mannes ging nicht in die Kamera, er führte nach links aus dem Bild heraus, das gab dem Gesicht etwas Gefährliches, Verschlagenes. Nein, Henry hatte kein Foto von Frau und Kind, von Mutter und Vater auf dem Schreibtisch stehen, sondern das Bild seines Gegners, als ob er seinem Haß Futter geben müsse.
    Henry hatte Stalin vor Augen, jeden Tag. Den Herrscher der Sowjetunion, den Oberbefehlshaber der Roten Armee, den Schlächter von Millionen. Der sich erst mit Hitlers Hilfe und dann mit Duldung der Alliierten Polen einverleibte. Und der 1949 die erste sowjetische Atombombe zünden ließ.
    Katyn. Henry hatte für alles, was er fürchtete und haßte, dieses eine Wort. Katyn.
    Seine Stimme, die immer wieder Zahlen und Namen flüsterte, wie ein Gebet am Rosenkranz: 3. April bis 19. Mai 1940. Fast 15000. Die meisten davon Soldaten und Offiziere der polnischen Armee. Erschossen. In Gruben verscharrt. Henrys Vater. Der Bruder seiner Mutter. Der Nachbar. Der Sohn eines Lehrers. Stalin hatte ermorden lassen, wer seiner Annexion Polens hätte Widerstand entgegensetzen können.
    Henry hieß Jan nach seinem Onkel und nannte sich Henry nach seinem Vater. Jan Henry Nowak. Einer, der eine Rechnung offen hatte und der nur auf seine Chance wartete.
    Sie war nie gekommen. Aber als Marie ihn kennenlernte, glaubte er daran. Glühend.
     
    1947. Die Polen waren aus dem Emsland abgezogen, man gehörte jetzt zur britischen Zone. Henry war Redakteur einer neuen Zeitung geworden, die »Lux« hieß. Auch Marie hatte er eine Stelle verschafft, wieder als Mädchen für alles. Die Luft in der Kellerwohnung eines zerbombten Altbaus im

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